Vom großen Glück einer grauenhaften Jugend in Ostdeutschland
Wie war es, als jüdischer Junge im Terror ostdeutscher Neonazis aufzuwachsen? Mitte der Neunziger Jahre, in der Leipziger Plattenbaukolonie Grünau.
Es war nicht besonders gut, so viel kann ich verraten. Selbstverständlich erinnere ich mich noch an die Nazipartys unserer Nachbarin, die Rudolf Hess für einen Volkshelden hielt. Die fröhlichen Sieg-Heil-Rufe und Landser Mixtapes, die jeden Shabbes aus ihrer Wohnung bis in mein Kinderzimmer drangen. Fast zwanzig Jahre später habe ich immer noch vor Augen, wie die grölenden Faschisten bewaffnet um den Block ziehen. Um uns zu jagen. Mit einer Selbstsicherheit, als wäre das der soziale Naturzustand. Ich sehe immer noch den bewusstlos geschlagenen Mann vor der Eingangstür zum Elfgeschoss bluten, und wie ihm stundenlang niemand hilft. Auch wenn ich das damals alles zur Normalität shizophrenierte: Ich habe verinnerlicht, wie sich über Jahre angehaltener Atem anfühlt.
Das war die Sicherheit, die die Bundesrepublik uns jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der Sowjetunion bot. Zumindest in Ostdeutschland. Diese historische Ironie bewusst zu machen, sie ins kollektive Selbstbild zu bringen, ist wohl auch meine Aufgabe als kleiner jüdischer Zeitzeuge.
Und dennoch verschafft unsere Eingangsfrage den Nazis von damals zu viel der Ehre. Natürlich waren sie Antisemiten, aber keine qualifizierten. Will sagen: Man musste nicht vom auserwählten Volk abstammen, um in Grünau in Lebensgefahr zu sein. Ein grüner Hut, unbeschwert Gummibärchen zu schmatzen, ein Lächeln, das genügte völlig. Kein Nazi zu sein, das war eine Kriegserklärung in Grünau. Die Steffen Bahndorfs aus Rostock, Jena und Zwickau mussten ihren Atem ganz genauso anhalten, wie der kleine Dmitrij Kapitelman. Meine Jugend der Jagden war also weniger eine explizit jüdische als vielmehr eine ostdeutsche Erfahrung.
Kurios ist nun, dass keiner diese Distinktion, diesen eigentlich verbindend integrativen Perspektivwechsel, von mir hören will. Sie als Jude in Grünau….das war eher eine ostdeutsche Sache, korrigiere ich…ja, aber Sie als Jude…
Dass mir die ostdeutsche Perspektive scheinbar nicht zusteht, als einer, der mit acht Jahren als Widergutmachungsjude aus der Ukraine kam – sollte mich das aufregen? Hey! Ich werde in der Verortung meiner Diskriminierung diskriminiert!
Ich jetzt werde niemanden deshalb (brutal) zusammenschlagen. Aber bedenklich ist es schon. Denn so wird meine Kritik an den Zuständen im gegenwärtigen Ostdeutschland zur Kritik eines Außenseiters ausgegliedert. Wir kommen gleich noch darauf zurück.
Eine für mich schwierigere Frage ist nach all den Jahren ohnehin eine andere: Wie sehr soll ich mich von diesen Jahren prägen lassen? Wie stark soll meine Jugend in Grünau determinieren, wie viel Nähe ich zu diesem Land zulasse? Ist diese Horde besoffener Assis wirklich meine primäre emotions-politische Sozialisation? (In Kombination mit der nie helfenden Polizei und den Leuten ringsherum, die all die Gewalt geschehen ließen und schwiegen, vielleicht sogar insgeheim guthießen).
Ich bin müde geworden, von dieser trostlosen Zeit zu erzählen. Möchte nicht wie hängengebliebene Platten(bauten) klingen. Auch weil in der Zwischenzeit meine Welt so viel größer geworden ist. Auch meine deutsche Welt. Ich habe mit bayerischen Opas Joints geraucht, die die ausgefallensten Hüte trugen. Deutsch-Eritreer in traditionell ostafrikanischen Gewändern Gummibärchen mampfen gesehen, in der Straßenbahn nach Frankfurt Gallus – ohne dass irgendjemand feindselig glotzt. Und auch Leipzigs Lächeln lieben gelernt. Das heute eine der lebendigsten und engagiertesten Zivilgesellschaften in ganz Deutschland beheimatet, würde ich sagen. Wobei das manchmal so erschreckend krass vom Stadtteil abhängt. In Plagwitz ist es fein, in Lindenau kommen schon die ersten Wehrmacht-T-Shirts zum Vorschein, Umland ist schon wieder lebensgefährlich. Leipzig ist eine Ausnahme im Osten. Leider.
Wer weiß, wäre ich in einem Vorort von Wuppertal aufgewachsen, womöglich stünde mein politischer Kompass seelenruhig still. Aus schwerem Sicherheits-Marmor gebaut. Statt so sensibel bei jedem neuen Einzelfall rechter Strukturen im Staat aufzuzucken. Vielleicht fände ich die CDU jetzt Spitzenklasse und hätte schon dreizehn Kinder, alle genderneutral Bernd genannt, Betriebswirtschaftslehre studierend.
Aber ich bin nun mal in Grünau aufgewachsen. Zu meinem Glück, zu meinem Leidwesen. Und war daher nicht überrascht als Pegida auf die Straßen trat und blökte. Auch nicht schockiert, als die AfD in Sachsen über dreißig Prozent einfuhr (und weiter einfährt). Ok, ich war auch schockiert, aber nicht so lange wie andere. Das sind Kontinuitäten, die kontinuierlich verleugnet werden. Damals und mitunter heute schwören die Regierenden, dass Rechtsextremismus keine große Sache sei in Sachsen (und sonst wo eigentlich auch nicht). Politik spricht geschichtsweise, leutselige Worte zu allen Holocaust-Gedenktagen. Und stopft uns lebenden Juden dann ein Hufeisen in die Fresse, wenn wir fragen, was denn nun mit den Nazinetzwerken in Polizei, Gerichten und Behörden ist. Um dem interreligiösen Geist dieser Blogs ein wenig entgegenzukommen: Moslems, Christen und Buddhisten prügelt sie diese Relativierungen erst recht in den Rachen. Und ein überwiegender Teil der Gesellschaft findet das absolut anständig. Wir Atemhalter sind dann das Problem – weil wir immer problematisieren müssen, bis wir blau anlaufen.
Kontinuitäten. Die blutigen neunziger Jahre im Osten wurden nie aufgearbeitet. Im Gegenteil. Was glauben die Leute denn, wo all das Gift, wo all die Gewaltbereitschaft und seelische Verwahrlosung hin sind? Hass löst sich nicht in Luft auf. Der NSU hat ganz frei geatmet, jahrelang. Und der Verfassungsschutz brachte ihm brav Bonbons. Die AfD hat nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle zugelegt. Nochmal: Die rechtsextreme Partei in Sachsen-Anhalt (mit Machtperspektive) erhielt NOCH MEHR Stimmen, nach der versuchten Exekution der jüdischen Gemeinde in Halle. Natürlich kommen dann die Verschwörungstheoretiker mit der jüdischen Pharmalüge. Oder kleben sich gleich einen Judenstern an ihre ungeimpfte Birne. Ja, sie kommen genauso aus Stuttgart und Recklinghausen. Aber ich spreche hier nun mal aus einer ostdeutschen Perspektive.
Diese gesellschaftliche Arroganz gegenüber der Gefahr und der Gewalt, die besonders Minderheiten im Osten aushalten müssen – ebenso alle, die wirklich solidarisch zu uns stehen – sie macht mich rasend. Und exakt das ist so ein Dilemma, indem auch dieser jüdische Junge steckt: Einerseits will man nicht ständig alarmieren, nicht schwarzsehen, nicht generalverdächtigen, nicht schon wieder den Atem anhalten. Sehnt sich nach Hüten, Gummibärchen so groß wie ein Plattenbau und legitimen Lächeln für alle.
Leider ist die Realität weiterhin eine andere.
Dmitrij Kapitelman
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, kam im Alter von acht Jahren als "Kontingentflüchtling" mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er für die Wochenzeitung DIE ZEIT. 2016 erschien sein erster Roman "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters", für das er den Klaus-Michael Kühne-Preis gewann. Für sein zweites Buch "Eine Formalie in Kiew" (2021) wurde Kapitelman mit dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet.
Literatur
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Axel Honneth (2010): Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert. www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33577/verwilderungen-kampf-um-anerkennung-im-fruehen-21-jahrhundert/ (Abruf: 29.11.2022)
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Jan Plamper (2019): Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Der Beitrag basiert auf dem Artikel von Magdalena Herzog und Collin Feuerstein „Resümee – Handlungsimpulse für Politik und Gesellschaft“ in unserem Buch „Flucht und Engagement. Jüdische und muslimische Perspektiven“. www.hentrichhentrich.de/buch-flucht-und-engagement.html