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Religiöse und säkulare Herausforderungen in Ostdeutschland

Redet man über Religion in Ostdeutschland, kann jede:r Zuhörer:in fragen, warum das? Und dies ist nachvollziehbar. Gerade mal jede:r fünfte Ostdeutsche ist Mitglied in einer Religionsgemeinschaft. Diese Areligiosität oder Säkularität in Ostdeutschland hat teils schon die dritte Generation erreicht. Die Erosion der religiösen Sozialisation ist auch ein Grund, dass nach 1989 kein grundsätzlicher Wechsel in der religiösen Entwicklung und religiösen Landschaft stattgefunden hat. Lohnt es sich, über Religion in Ostdeutschland, einer im Wesentlichen säkularen Region, zu reden?

Natürlich ist diese Frage mit ja zu beantworten. Zum einen ist trotz der übersichtlichen Mitgliedschaften in den beiden christlichen Großkirchen in Ostdeutschland, zusammen gerade einmal zwischen 15% (in Sachsen-Anhalt) und 28% (in Thüringen), Religion im ostdeutschen Raum präsent (bpb 2020). Teils auf der kulturellen Ebene, im Sinne von Kirchengebäuden und Kirchenmusik, teils als Fokuspunkt für politische Initiativen gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus. Der kirchliche Raum ist Orientierungsort für die Ansiedlung von Zivilgesellschaft (Pickel 2016) und Sozialkapital (Putnam/Campbell 2011). Nicht zu vergessen die Rolle, die Kirchen als wichtige Institution des politischen Umbruchs spielten. Ein Besuch der Nikolaikirche in Leipzig gibt einem darüber gut Auskunft.

Zum anderen ist Ostdeutschland im Umgang mit religiöser Vielfalt nicht wirklich erfahren. Zwar ist es nicht so, dass vor der Wiedervereinigung keine Migrant:innen und damit keine Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften in Ostdeutschland lebten. Vor allem aus dem sozialistischen Bruder- oder Schwesterland Vietnam kam eine Vielzahl an sogenannten Leiharbeiter:innen, die dann in der Folge teilweise auch in Deutschland blieben. Zudem kam es zu Zuwanderung aus Polen und besonders von Menschen mit deutscher Historie aus der ehemaligen UdSSR. Zwischen 1989 und 2015 erweiterte sich dieses Spektrum durch meist innerdeutsche Migration nur langsam. Der Kontakt zu Muslim:innen war in Ostdeutschland weiter selten. Vor diesem Hintergrund überraschte es im Kontext der Fluchtbewegungen 2015 dann doch, dass gerade in Ostdeutschland verstärkt zur Verteidigung des Abendlandes aufgerufen wurde. In beachtlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung manifestierten sich antimuslimische Einstellungen. Da bis Ende 2020 der Anteil der Muslim:innen an der ostdeutschen Bevölkerung unter einem Prozent lag, konnten es kaum persönliche Erfahrungen sein, die zu einer solchen Haltung führten. Die muslimische Religionszugehörigkeit diente nun als Marker für als unerwünscht eingeschätzte Personen – und fungiert auch in gewisser Hinsicht als Sündenbock für eigene Probleme. Kampagnen aus der extremen Rechten verfestigten und verstärkten diese Situation.

Die Angst vor der Religion in Ostdeutschland?

Dr. Gert Pickel

Jose Casanova (2009) hat die Angst Europas vor Religion recht weitreichend skizziert. Er sah eine Negativberichterstattung über Religion und eine auf religiöse Konflikte zielende öffentliche Debatte als Grund für einen Bedeutungsverlust von Religionen in Europa. Schaut man auf Umfrageergebnisse, wie z.B. im Religionsmonitor 2013 oder 2017, dann scheint diese allgemeine Annahme für Ostdeutschland verkürzt. Mochten vielleicht direkt nach der Wiedervereinigung Ostdeutsche noch Sorgen vor einer Missionierung durch die westdeutsche katholische und evangelische Kirche gehabt haben, so ist davon heute nicht mehr viel zu sehen. Gerade einmal 10% der Ostdeutschen finden 2017 das Christentum bedrohlich (Pickel 2022: 761). Die Ängste sind genauso niedrig wie in Westdeutschland. Nur 1% möchten keine Christ:in als Nachbarn und 8% fänden es nicht gut, wenn ein:e Christ:in in die eigene Familie einheiraten würde (Pickel 2017: 76, 78). Von einer Angst vor dem Christentum kann man wohl kaum sprechen. Vor allem nicht, wenn man die Haltungen zu anderen Religionen betrachtet. Immerhin 20% der Ostdeutschen (aber auch der Westdeutschen) wäre die Einheirat eines jüdischen Familienmitglieds und 47% die eines muslimischen Familienmitglieds unangenehm. Es handelt sich also weniger um eine Angst vor und Distanz zu Religion, als um eine Angst vor anderen Religionen, als das – meist nur noch lose überlieferte – Christentum. Eine Religionsgemeinschaft stößt auf besondere Ablehnung – „der Islam“. Immerhin 58% der Ostdeutschen sehen „den Islam“ als bedrohlich an. Selbst wenn dieser Wert nur sieben Prozentpunkte höher liegt als in Westdeutschland (Pickel 2017: 80), scheint in Ostdeutschland mehr hinter der Ablehnung zu liegen als nur religiöse Gründe.

Antimuslimischer Rassismus, hegemoniale Vorstellungen, wie die Gesellschaft gruppiert sein sollte und die Suche nach einem Sündenbock für eigene Unzufriedenheiten dürften Anteil an dieser Markierung besitzen. Die Existenz der als fremd klassifizierten Religionsgemeinschaft erleichtert diese Suche nach einem Sündenbock merklich. Die stattfindende Kategorisierung und teilweise Rassifizierung islamischer Gemeinschaften ist keine exklusiv ostdeutsche Sache, allerdings ist sie in Ostdeutschland seit Jahren stärker verbreitet (Pickel 2022: 760-762). Man kann verschiedene Gründe dafür aufrufen. Eine generelle Ablehnung von Religion scheint es nicht zu sein. Zwar ist nur jede:r vierte Ostdeutsche Mitglied in einer Religionsgemeinschaft, Ängste vor Christ:innen bestehen aber nicht. Wie in Westdeutschland finden 10% das Christentum als bedrohlich und nur 1% würde Christ:innen als Nachbarn unangenehm finden (Pickel 2019: 76, 80). Dies gegenüber Muslim:innen deutlich anders, sehen doch 58 den Islam in Ostdeutschland als bedrohlich an, 7%-Punkte mehr als in Westdeutschland. Neben geringen Kenntnissen von Muslim:innen oder einer generellen Ablehnung von „Fremden“ kann auch eine Bedrohung des eigenen Status möglich sein, der Statuskämpfe um die stärkere Benachteiligung zwischen Ostdeutschen und Muslim:innen auslöst, die man in Ostdeutschland sieht und die einen zu einer verstärkten Abwehr des meist unbekannten „Gegners“ drängt (Foroutan et al. 2019: 28). Beispielhaft sei nur auf die Debatten über zu wenig Ostdeutsche in Wirtschaftseliten oder ungefähr 70%, die der Aussage als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt zu werden (Pickel/Pickel 2022: ). Wahrscheinlich ist die Auswirkung von fehlenden positiven Kontakten mit Muslim:innen, die man in Ostdeutschland (und nicht nur dort) meist allein aus dem Fernsehen und über Hörensagen kennt. Und in den Medien ist die Darstellung von Muslim:innen oft ungünstig (Hafez/Schmidt 2015). So kommen parasoziale Kontakte statt realen Kontakten zur Wirkung (Pickel/Yendell 2016).

Die Probleme der Nichtreligion in Ostdeutschland?

Sicher nicht hilfreich bei der Auseinandersetzung mit dem Islam, aber auch mit dem Judentum ist der religiöse Wissensverlust, der in Ostdeutschland im Zuge einer „forcierten Säkularität“ (Wohlrab-Sahr et al. 2009) stattgefunden hat. In gewisser Hinsicht ist er ein Vorbote einer zukünftigen gesamtdeutschen Entwicklung. So ist Westdeutschland auf dem Weg sich an die ostdeutschen Verhältnisse einer eher säkularen Gesellschaft anzunähern (Pickel 2017: 55-56). Dies wird zwar noch einige Zeit benötigen, aber bei der Betrachtung der letzten hohen Kirchenaustrittszahlen muss Kirchenvertreter:innen die Sorge kommen, dass die seit den 1960er Jahren fortlaufende Säkularisierung sich beschleunigt. Da in der Regel die eher moderaten Vertreter:innen einer Religion aus ihr austreten, besteht das Risiko, dass die schrumpfenden christlichen Religionsgemeinschaften konservativer und dogmatischer werden. Dies mag vielleicht zu einer besseren Anerkennung zwischen den dogmatischeren Vertreter:innen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften beitragen, dürfte aber den Austausch zwischen religiös unmusikalischen Bürger:innen und dogmatisch religiösen Bürger:innen erschweren. Speziell, wenn das Bild einiger Religionsgemeinschaften im Großteil der Bevölkerung aus einer Mischung aus Unwissen und Ablehnung besteht. Der Schwund religiösen Wissens wirkt sich für alle Religionen negativ aus. Gibt es keine:n geschulte Religionsvertreter:in vor Ort, existiert für Menschen ohne Religionszugehörigkeit niemand, den man über verschiedene Religionen befragen kann. So wird es schwerer rechtliche Auseinandersetzungen über Religionsfreiheit und seine Grenzen zu verstehen.

Oliver Roy (2010) sieht im Gegensatz einer einerseits stärker säkular werdenden Gesellschaft und dogmatischeren Religiösen eine der zentralen Konfliktlinien der Zukunft. Gerade die voranschreitende Säkularisierung ist aus seiner Sicht die Triebkraft der Durchsetzung eines immer dogmatisch bis fundamentalistischen Verständnisses der eigenen Religion. Man wird quasi zu einer Entscheidung gezwungen: Entweder richtig säkular oder richtig religiös. Moderate Kräfte werden dazwischen zerrieben. Eine solche Entwicklung ist außerhalb Europas – siehe z.B. die USA, in Teilen bereits zu erkennen. Bislang können wir diese Form der Polarisierung in Ostdeutschland noch nicht in der Breite feststellen. Was die Zukunft bringt bleibt allerdings offen.

Die Probleme religiöser Vielfalt?

Nun ist gegen religiöse Vielfalt erst einmal nichts zu sagen. Gleichwohl ist auch sie nicht problemfrei So gesellen sich z.B. zum bereits existierenden primären und sekundären Antisemitismus in Deutschland, der vor allem von extrem rechter Seite in der Gesellschaft am Leben gehalten wird, Ablehnungshaltungen gegenüber dem Judentum und Israel von muslimischen Bürger:innen (Öztürk/Pickel 2022: 217, 220). Nun sollte man nicht dem Narrativ extrem rechter Parteien, auf den Leim gehen, die den Antisemitismus als Importgut anpreisen. Damit wollen sie von den in der eigenen Partei und im rechten Spektrum seit vielen Jahrzehnten florierenden antisemitischen Ressentiments ablenken. Allein die im rechten Spektrum strapazierte Verschwörungserzählung des „Großen Austausches“, welche antimuslimischen Rassismus problemlos mit antisemitischen Narrativen verbindet, kann als Beispiel für diese Strategie und ihre Probleme gelten. Gleichzeitig sollte diese Problematik auch wieder nicht als Grund dienen, den Blick vollständig von einer existierenden Problemlage abzuwenden: Eine in bestimmten muslimischen Gemeinschaften bestehender Antisemitismus der neben überlebende Teile eines klassischen Antijudaismus tritt.

Speziell eine fundamentalistische Auslegung ihrer Religion regt zur Ablehnung anderer Religionen an. Dies trifft nicht alleine Muslim:innen, sondern auch Christ:innen und weitere Religionen, wie es sich bislang noch eher außerhalb Deutschlands zeigt. In Ostdeutschland kommen auch nicht wenige Menschen ohne Religionszugehörigkeit dazu, die Vorurteile besitzen oder rassistische Differenzen in der Gesellschaft als richtig empfinden, bzw. rassistische Vorstellungen äußern (UEM 2023: 46). Angesichts der Vielfalt der potentiellen Schwierigkeiten im Umgang mit Religion, aber auch religiöser Vielfalt in Ostdeutschland wird die zukünftige Problematik einer Gleichzeitigkeit von weiterer Säkularisierung und religiöser Pluralisierung deutlich. Es ist zwingend notwendig mehr Wissen über alle in Deutschland lebenden Religionen zu schaffen. Schulen wären ein geeigneter Ausgangspunkt dazu. Gleichzeitig gilt es die Kontakte zwischen Mitgliedern von Religionsgemeinschaften, aber auch zwischen diesen und Menschen ohne Religionszugehörigkeit voranzubringen. Tut man dies nicht im ausreichenden Maß, so könnte die Zukunft (noch) mehr Missverständnisse und Konflikte zwischen Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit (und Nichtzugehörigkeit) mit sich bringen. Dass Rassismus und Antisemitismus gerne in solchen Konflikten gedeiht, ist es eigentlich nicht notwendig zu sagen.

Dr. Gert Pickel

Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, Leiter der Verbundstudie "Rassismus und Institutionen" (InRa), Co-Leiter des Teilinstitutes Leipzig des Forschungsinstitutes Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig.

Literatur

Bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) (2020): Kirche nach Bundesländern. Berlin: bpb.

Casanova, Jose (2009): Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berliner University Press.

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.) (2022): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Gießen: Psychosozial Verlag.

Foroutan, Naika/Kalter, Frank/Canan, Coskun/Simon, Mara (2019): Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. Berlin: DeZIM-Institut.

Hafez, Kai/Schmidt, Sabrina (2015): Die Wahrnehmung des Islam in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Öztürk, Cemal/Pickel, Gert (2023): Antisemitismus unter Muslim:innen. Ein Problemfeld potentieller Radikalisierung oder nur ein Instrument rechter Akteure? In: Pickel, Susanne/Pickel, Gert/Decker, Oliver/Fritsche, Immo/Kiefer, Michael/Lütze, Frank M./Spielhaus, Riem/Uslucan, Haci-Halil (Hg.): Gesellschaftlich Ausgangsbedingungen für Radikalisierung und Co-Radikalisierung. Wiesbaden: Springer VS: 351-398.

Pickel, Gert (2016): Sozialkapital und zivilgesellschaftliches Engagement evangelischer Kirchenmitglieder als gesellschaftliche und kirchliche Ressource. In: Bedford-Strohm, Heinrich/Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus: 277-301.

Pickel, Gert (2017): Religiosität in Deutschland und Europa – Religiöse Pluralisierung und Säkularisierung auf soziokulturell variierenden Pfaden. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 1(1): 37-74.

Pickel, Gert (2019): Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie. Wie sich religiöse Pluralität auf die politische Kultur auswirkt. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Pickel, Gert (2022): Religiöse Vielfalt als Bedrohung oder Bereicherung? Ergebnisse des Bertelsmann Religionsmonitors 2017 im Ländervergleich. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 6(2): 749-779.

Pickel, Susanne/Pickel Gert (2022): The Wall in the Mind – Revisited Stable Differences in the Political Cultures of Western and Eastern Germany. German Politics 32(1): 20-42.

Putnam, Robert/Campbell David (2011): American Grace: How Religion divides and unites us. New York: Simon & Schuster.

Öztürk, Cemal/Pickel, Gert (2022): Der Antisemitismus der Anderen: Für eine differenzierte Betrachtung antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen in Deutschland. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 6(1): 189-231.

Pickel, Gert/Yendell, Alexander (2016): Islam als Bedrohung? Beschreibung und Erklärung von Einstellungen zum Islam im Ländervergleich. Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP) 10(3-4): 273-310.

Roy, Oliver (2010): Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. München: Siedler Verlag.

Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) (2023): Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz. Berlin: Bundesministerium des Inneren und der Heimat.