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RASSISTISCHE HIERARCHIEN

Ist Antisemitismus ein Phänomen für sich – und wenn ja, was bedeutet das für die Rassismusforschung?

In der Debatte um den Aus- und Aufbau einer empirischen Rassismusforschung in Deutschland herrscht Uneinigkeit darüber, ob Antisemitismus als eine spezifische Form des Rassismus gegen Jüdinnen:und Juden verstanden werden sollte, oder ob es sich hierbei um eine Form der Menschenfeindlichkeit handelt, die mit den Analysekategorien der Rassismusforschung nicht adäquat erfasst werden kann, weil z.B. historische, politische oder direktionale Bezüge nicht übereinstimmen (Brumlik 2022; Rommelspacher 2009; Wyrwa 2019). Auch die Frage, ob Antisemitismus sich überhaupt als „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ oder eher als Weltanschauung und Ressentiments artikuliert, ist Teil der antisemitismuskritischen Theoriebildung.

Bei einer Diskussion darüber im Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus, den die Bundesregierung nach den Morden in Halle und Hanau einsetzte, problematisierte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden die Gleichstellung zwischen Rassismus und Antisemitismus mit dem Hinweis, dass sich ersteres vor allem über Stereotype nach „unten“ äußere, während im Antisemitismus zu einem Großteil Stereotype bedient werden, die auf eine sinistere Elite rekurrieren, die Gesellschaften „von oben“ steuerten.[1] Diese analytische Differenz wird auch wissenschaftlich aufgenommen und kann als „fragiler Konsens“ (Mendel/Messerschmidt 2017) beschrieben werden (Mendel/Uhlig 2017).

[1] Das Hearing fand im September 2020 statt.

(Foto: Rasmus Tanck)

Situativität von Rassismus

Ob eine Handlung als rassistisch eingeschätzt wird, hängt nicht nur von Zuschreibungen gegenüber spezifischen sozialen Gruppen ab, sondern auch von der jeweiligen Situation, in der eine Handlung sich abspielt. Das konnte in der repräsentativen Auftaktstudie „Rassistische Realitäten“ (DeZIM 2022), die wir am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) im Mai publiziert haben, empirisch nachgewiesen werden: Situationen, bei denen eine strukturellen Benachteiligung vermutet wurde, werden häufiger auch als rassistisch erkannt und eingestuft:

  • Eine deutliche Mehrheit (89 Prozent) hält es demnach für rassistisch, wenn ein Apotheker keine Angehörigen einer bestimmten Gruppe einstellen möchte, weil seine Kunden sich dann unwohl fühlen könnten.
  • Auch erkennt eine deutliche Mehrheit (85 Prozent) darin Rassismus, wenn die Direktorin einer Schule ein Kind wegen seiner Herkunft ablehnt – selbst wenn die Begründung im vermeintlichen Sinne des Kindeswohls artikuliert ist.[2]
  • Und weiterhin finden es 87 Prozent rassistisch, wenn eine Familie bei der Wohnungsbesichtigung abgelehnt wird, weil sie „nicht in die Nachbarschaft passt“.

Die Bevölkerung in Deutschland erkennt also zu hohem Masse an, dass es strukturellen Rassismus im Bereich Arbeit, Bildung und Wohnen gibt und lässt sich nicht von vorgeschobenen Entschuldigungen täuschen.

[2] Die Frage lautete: „Die Direktorin einer Schule lehnt ein Kind mit der Begründung ab, dass es als einziges (wahlweise: jüdisches/muslimisches/Schwarzes/asiatisches/osteuropäisches/Sinti/Roma) Kind an dieser Schule sicher nicht glücklich werden würde.“

Gruppenbezogenheit und Rassistische Hierarchien

Ob eine Situation als rassistisch eingeschätzt wird, hängt allerdings auch – und hier führt mich der Text zum Beginn der Debatte zurück – von der Gruppe ab, die betroffen und adressiert ist. Die empirischen Befunde zeigen, dass es in der Zu- und Anerkennung von Rassismus tatsächlich unterschiedliche Hierarchien gibt.

  • Am stärksten als rassistisch empfunden werden die oben genannten Situationen (in der Apotheke, Schule oder Wohnung), wenn die betroffenen Personen Jüdinnen:Juden oder Schwarze Menschen sind (60% erkennen diese Situationen dann voll und ganz als rassistisch an und zusätzlich etwa 20% bewerten sie als „eher rassistisch“).
  • Antiasiatischer Rassismus wird in 50% der Fälle voll und ganz anerkannt (und zusätzlich teilen 25% die Einschätzung „eher“). Dies ist schon geringer als im Erkennen von anti-Schwarzem Rassismus und Antisemitismus, möglicherweise weil das Bewusstsein, dass es so etwas wie antiasiatischen Rassismus gibt, nicht so stark verankert ist, wie das Wissen darüber, dass abwertendes Verhalten gegenüber jüdischen Menschen antisemitisch ist bzw. gegenüber Schwarzen als rassistisch gilt. Da Asiat:innen lange als sogenannte „model minority“ unsichtbar gedacht wurden, sickert erst seit Kurzem das Bewusstsein über diese Form von Rassismus in die Debatten ein (Mayer/Nguyen/Suda 2020).
  • Gegenüber Muslimen sowie Sinti und Roma werden ein und dieselben Situationen hingegen weniger deutlich als rassistisch bezeichnet (45% und 47% bewerten die Situationen voll und ganz als rassistisch und 25% eher als rassistisch). Dies verwundert insofern zunächst, weil bestehende empirische Befunde seit Jahren auf eine stärkere Abwertung und Stereotypisierung dieser beiden Gruppen in der Bevölkerung hinweisen (z.B. Berghan et al. 2019; Decker et al. 2022; Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Gleichzeitig weisen die Studien nach, dass Angehörige dieser beiden sozialen Gruppen besonders stark damit konfrontiert werden, sie seien selbst schuld an ihrer schlechten sozialen Position (ebd.).

Es gibt also zunächst ein stärkeres Bewusstsein über Antisemitismus und Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland, und es sind Hierarchien in der Wahrnehmung von Rassismus erkennbar. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass in der Schule vermitteltes historisches Wissen in Bezug auf den Holocaust und die Geschichte des Kolonialismus sowie der Sklaverei ein höheres Bewusstsein für die Existenz dieser Phänomene erzeugt. Insofern könnten wir davon ausgehen, dass es einen Zusammenhang zwischen rassismus- und antisemitismuskritischer schulischer Bildung und dem Bewusstsein über diese Phänomene gibt – selbst wenn die Schulbuchforschung hier zurecht noch auf Defizite hinweist (vgl. Bernstein 2020)

Dies bedeutet aber keineswegs, dass antisemitische Vorfälle hierzulande gering wären und in Deutschland zudem Schwarze Menschen besser behandelt würden als andere visible Minderheiten (Berghan et al. 2019; Bernstein 2020; Aikins et al. 2020). Es könnte nämlich auch sein, dass die höheren Zustimmungswerte, die Situationen im Falle von Jüdinnen:Juden und Schwarzen eindeutiger als rassistisch zu bezeichnen, auf soziale Erwünschtheit zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass die Befragten dann so antworten, wie sie glauben, dass der Interviewer das wünscht oder erwartet (z.B. Bogner/Landrock 2015).

Auch die Rezeption aktueller Rassismusdebatten im Nachgang zur Ermordung von George Floyd und den Protesten von Black Lives Matter oder Antisemitismusdebatten im Nachgang zum Attentat auf die Synagoge in Halle, können Einfluss auf die Awareness zum Zeitpunkt der Umfrage gehabt haben. Gleichzeitig konnte aber bisher noch nicht festgestellt werden, dass islamophobe oder antiziganistische Attacken zu Awarenessrising führen oder das Antwortverhalten der Menschen positiv beeinflusst hätten. Vielmehr werden diese Taten eher davon flankiert, dass infrage gestellt wird, ob es die dahinterliegenden Phänomene überhaupt gibt.

Fazit              

Für die Debatte, ob Antisemitismus eine Form von Rassismus ist oder nicht, ist empirisch festzuhalten, dass die Befragten in der bereits genannten Studie „Rassistische Realitäten“ Rassismus gegen Jüdinnen:Juden auf einer ähnlichen Stufe kognitiv einordnen wie Rassismus gegen Schwarze Menschen. Die unterschiedliche Bewertung und Hierarchisierung von ein- und denselben Situationen gegenüber anderen rassifizierten Gruppen lassen jedoch darauf schließen, dass es sinnvoll ist, Rassismen im Plural und mit Bezug auf spezifische Untergruppen zu beforschen.

Es spricht aus empirischer Sicht einiges dafür, „Rassismus gegen Juden“ zu untersuchen, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Debatte um eine zeitgemäße Antisemitismusdefinition, zwischen International Holocaust Remembrance Alliance und Jerusalem Declaration, rund um die Frage eines „Israelbezogenen Antisemitismus“ aktuell so toxisch geführt wird, dass es schwieriger wird, Antisemitismus empirisch zu operationalisieren. Die Versuche der Kanonisierung von Abwehrmechanismen, z.B. in der Suche nach Analogien zwischen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus, sind allerdings auf nicht weniger konfliktträchtige Auseinandersetzungen gestoßen.

Eine konstruktive Debatte hinsichtlich der Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Antisemitismus und Rassismus wird durch den Aufbau solidarischer Allianzen, bspw. zwischen muslimischen und jüdischen Positionen gefördert. Diese Anstöße müssen sich stärker Gehör verschaffen, um der dominanzgesellschaftlichen Banalisierung von religiösen Minderheitendebatten als „Opferkonkurrenz“ einen produktiven Denk-, Streit-, und Konsensraum entgegenzusetzen.

Ein jüdisch-muslimisches Forum wie die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ könnte ein Ort sein, an dem sich gesellschaftspolitische Debatten aus dem aversiven Duktus heraus und in einen vertrauensvolleren Kontext hineinbegeben, um unter Einbeziehung empirischer Grundlagenforschung unterschiedliche analytische Angebote in den Diskursraum zurückzutragen. Am Ende muss es auf eine Rassismusforschung hinauslaufen, die historische, kulturelle, religiöse und nationale Spezifika anerkennt und respektvoll mit der tradierten Terminologie umgeht, ohne dabei das Potential der Standardisierung („Rassismus gegen x“) für die Ungleichheitsforschung aus den Augen zu verlieren.

Naika Foroutan

Prof. Dr. Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Gründungsvorstand des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V. und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Literatur

  • Aikins, Muna AnNisa; Bremberger, Teresa; Aikins, Joshua Kwesi; Gyamerah, Daniel; Yıldırım-Caliman, Deniz (2021): Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland, Berlin. Online verfügbar unter: afrozensus.de. Zuletzt aufgerufen am: 18.11.2022.
  • Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014): Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. Online abrufbar unter: antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/expertise_bevoelkerungseinstellungen_gegenueber_sinti_und_roma_20140829.html. Zuletzt aufgerufen am 18.11.2022.
  • Berghan, Wilhelm/Küpper, Beate/Zick, Andreas (2019): Verlorene Mitte – Feind-selige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn: Dietz.
  • Berghan, Wilhelm/Mokros, Nico/Zick, Andreas (2019): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland 2002–2018/19. In: Berghan, Wilhelm/Küpper, Beate/Zick, Andreas: Verlorene Mitte – Feind-selige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn: Dietz, S. 53–116.
  • Bernstein, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim: Beltz.
  • Bogner, Kathrin/Landrock, Uta (2015): Antworttendenzen in standardisierten Umfragen. Mannheim: GESIS Leibniz Institut für Sozialwissenschaften (GESIS Survey Guidelines).
  • Brumlik, Micha (2022): Ist Antisemitismus eine Form von Rassismus? Zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus. In: Mendel, Meron/Cheema, Saba-Nur/Arnold, Sina (2022) (Hg.): Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen. Berlin: Verbrecher Verlag, S. 82–88.
  • Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.) (2022): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Gießen: Psychosozial Verlag.
  • DeZIM (Hg.) (2022): Rassistische Realitäten. Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Online Abrufbar unter: www.rassismusmonitor.de/studie-rassistische-realitaeten/. Zuletzt aufgerufen am 18.11.2022. Brainstorming Gian:
  • Mendel, Meron/Uhlig, Tom David (2017): Challenging Postcolonial: Antisemitismuskritische Perspektiven auf postkoloniale Theorie. In: Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid (Hg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritsche Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 249–268.
  • Messerschmidt, Astrid (2005): „Antiglobal oder postkolonial? Globalisierungskritik, antisemitische Welterklärungen und der Versuch, sich in Widersprüchen zu bewegen“. In: Hanno Loewy (Hg.): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Essen, S. 123–146.
  • Rommelspacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus?, in: Claus Melter/Paul Mecheril (Hrsg.): Rassismuskritik. Rassismustheorie und -forschung, Bd. 1, Schwalbach im Taunus: Wochenschau Verlag, S. 25–38.
  • Suda, Kimiko/Mayer, Sabrina J./Nguyen, Christoph (2020): Antiasiatischer Rassismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Online abrufbar unter: bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316771/antiasiatischer-rassismus-in-deutschland/. Zuletzt aufgerufen am: 18.11.2022.
  • Wyrwa, Ulrich (2019): Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Ursachen und Erscheinungsformen einer wahnhaften Weltanschauung. In: König, Mareike/Schulz, Oliver (2009) (Hg.): Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive. Göttingen: VR Verlag, S. 13–40.