Suche
Close this search box.

Perspektive einer jüdischen Studentin in Ostdeutschland

Meine Religion und meine jüdische Identität prägen zahlreiche Aspekte meines Alltags. Bereits beim Aufwachen widme ich meinen ersten Gedanken oft der Dankbarkeit dafür, einen weiteren Tag auf dieser Erde verbringen, an mir arbeiten und meine Ziele verfolgen zu dürfen. Ein kurzer Segensspruch unterstreicht diesen Gedanken, und so beginnt mein Tag. Segenssprüche wie dieser und die verschiedenen Gebote im Judentum helfen mir dabei, mehr Achtsamkeit in mein Leben einzubauen.

Bevor ich das Haus verlasse, um zur Universität zu gehen, tauchen viele Fragen unvermittelt in meinem Denken auf. Soll ich heute meine Kette mit Davidstern-Anhänger tragen oder lieber nicht? Muss ich daran denken, koscheres Essen einzupacken, damit ich gemeinsam mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen in der Mensa sitzen und essen kann? Steht heute eine Gemeindeveranstaltung an, die ich nicht vergessen sollte? Welche aktuellen Debatten prägen momentan das jüdische Leben in Deutschland und zu welchem Thema werde ich heute wieder ungefragt meine Meinung äußern müssen? Dabei meine ich nicht die Momente, in denen ich öffentlich meine Ansichten teilen möchte, sondern die Situationen, in denen ich unaufgefordert zu aktuellen Themen des jüdischen Lebens befragt werde.

Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich mein Alltag und der vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland spürbar komplizierter und belastender gestaltet. Die Besorgnis um die Geiseln der Hamas, um Freundinnen und Freunde in Israel sowie die Trauer um die zahlreichen Opfer wiegen schwer. Der zunehmende Antisemitismus in Deutschland, der bereits zuvor eine bedeutende Bedrohung für jüdisches Leben und unsere Demokratie darstellte, scheint nun noch offener akzeptiert zu werden. In dieser schwierigen Zeit schöpfe ich Stärke und Hoffnung aus dem immensen Gefühl von Zusammenhalt und Solidarität innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sowie aus der Auseinandersetzung mit unserer eigenen Religion und Geschichte.

Grundsätzlich aber sind all diese Gedankengänge neu für mich. Denn obwohl mir meine jüdische Identität seit meiner Kindheit bewusst ist, hat sie erst mit meinem Studienbeginn an größerer Bedeutung gewonnen.

In meiner Jugend habe ich gerne an den Veranstaltungen des Jugendzentrums der Leipziger Gemeinde teilgenommen. Mit der Zeit wurde mir zunehmend bewusst, welch unbezahlbaren Wert diese Angebote für jüdische Jugendliche in Ostdeutschland haben. Besonders inspirierend war rückblickend der unermüdliche Einsatz meiner damaligen Jugendleiterin, die bis heute ein bedeutendes Vorbild und eine enge Freundin für mich ist. Veranstaltungen des Jugendzentrums dienen nicht nur dem unterhaltsamen Zeitvertreib und als sozialer Treffpunkt, sondern spielen auch eine entscheidende Rolle bei der Förderung eines positiven jüdischen Selbstverständnisses, das wiederum individuell unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Diese Erkenntnis weckte in mir das starke Bedürfnis, einen Beitrag für die junge jüdische Gemeinschaft in Leipzig zu leisten und mich aktiv in die lokale Gemeinde einzubringen. Vor zwei Jahren erhielt die Gemeinde eine Anfrage von der jüdischen Bildungsinitiative Hillel Deutschland, ob es eine Person gebe, die die junge jüdische Gemeinschaft in Leipzig stärken möchte. Diese Anfrage sprach mich direkt an. Bis heute verfolge ich mit meiner Arbeit dieses Ziel und organisiere unter anderem Veranstaltungen für eine Zielgruppe von jüdischen Studierenden und jungen Berufstätigen.

Interessant ist der Unterschied zwischen ostdeutschen und westdeutschen Gemeinden, da die ostdeutschen oft mit knapperen Ressourcen und einer geringeren Mitgliederzahl arbeiten. Die Geschichte der deutschen Teilung spielt hier eine entscheidende Rolle, insbesondere der Einschnitt in das Leben und Wirken der ostdeutschen Gemeinden und ihrer Mitglieder während der DDR-Zeit. Nach 1952 ging die Zahl der Mitglieder in der Leipziger Gemeinde stetig zurück, viele Juden flüchteten in den Westen Berlins, und mit der Wende im Jahr 1989 erreichte die Mitgliederzahl einen Tiefpunkt von 35 Personen. Die Wiederbelebung erfolgte erst durch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, aber die Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Gemeinden sind nach wie vor deutlich spürbar.

Für junge Erwachsene fungiert die Gemeinde in Leipzig als erste Anlaufstelle und als Zentrum für Kultur, Religion, gemeinschaftliches Zusammenleben und Austausch. Sie bietet auch einen Zufluchtsort, besonders für diejenigen, die einen neuen Lebensmittelpunkt abseits von ihrer Heimat und Familie gefunden haben. Bei den wöchentlichen Schabbat-Mahlzeiten der Leipziger Gemeinde habe ich häufig erlebt, wie Meinungsverschiedenheiten und teilweise gegensätzliche religiöse Ansichten der jungen jüdischen Anwesenden in den Hintergrund traten. Stattdessen entstand Raum für Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Erwähnenswert ist aber auch, dass viele Menschen das Angebot in Leipzig als unzureichend empfinden, insbesondere diejenigen, die in der Stadt eine Familie gründen möchten. Es gibt beispielsweise keinen jüdischen Kindergarten und keine jüdische Schule, derzeit auch kein koscheres Restaurant. Einige stören sich auch an der mangelnden Diversität bei den Möglichkeiten zur Ausübung der jüdischen Religion, wobei ich hier direkt an die einzige aktive Synagoge der Stadt denke, die einem traditionellen, orthodoxen Ritus folgt. Das bedeutet beispielsweise, dass Frauen und Männer beim gemeinsamen Gebet getrennt sitzen und dass es nur männliche Vorbeter gibt.

Ein weiterer Gedanke ist, dass sich unsere Gruppe von jungen Jüdinnen und Juden in Ostdeutschland künftig mehr Sichtbarkeit zutrauen sollte. Jüdische Perspektiven sind ein bedeutender, aber bisher oft fehlender Beitrag zu verschiedenen gesellschaftlichen Debatten in Ostdeutschland. Die Vielzahl an Ideen und einzigartigen Perspektiven meiner Gemeinschaft sind inspirierend und verdienen es, Gehör zu finden. Wir sollten anstreben, zunehmend an öffentlichen Veranstaltungen in der Region teilzunehmen, sowohl wenn es um jüdische, als auch um diverse aktuelle Themen geht.

Ein vielversprechendes Potenzial sehe ich hier im interreligiösen Dialog, in dem Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen nicht nur gehört werden, sondern auch aktiv mitreden und zuhören und von einer neuen Perspektive dazulernen können. Ein solcher Austausch basiert auf dem Versprechen gegenseitigen Respekts und einer aufgeschlossenen Begegnung auf Augenhöhe. Meine ersten Erfahrungen mit interreligiösem Dialog konnte ich in der jüdischen Gemeinde sammeln. Mehrmals im Jahr besuchen interessierte junge Studierende der evangelischen Theologie unsere Gemeinde, um mit eigenen Augen eine authentische Schabbat-Mahlzeit miterleben und sich mit uns austauschen zu können. Zudem konnte ich durch Veranstaltungen und Workshops der Denkfabrik Schalom Aleikum in ostdeutschen Städten Erfahrungen im Dialog mit muslimischen und christlichen Gleichaltrigen sammeln.

Es ist bereichernd, sich in einem sicheren und ungezwungenen Raum über verschiedene religiöse Lebensrealitäten auszutauschen, durch die direkten Begegnungen verinnerlichte Vorurteile zu beseitigen und drängende Fragen beantwortet zu bekommen. Dabei fällt mir jedes Mal auf, wie viele Gemeinsamkeiten junge Menschen unterschiedlicher Religionen teilen. Das betrifft nicht nur die offensichtliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, sondern auch den gemeinsamen Glauben an eine höhere Macht, das Praktizieren religiöser oder kultureller Traditionen sowie das Interesse an aktuellen gesellschaftlichen Diskursen in Deutschland.

Also vereinen uns an vielen Stellen ähnliche Denkweisen, aber auch gemeinsame Herausforderungen. Eine der größten Hürden ist meiner Meinung nach (antimuslimischer) Rassismus und Antisemitismus. Beide Formen ähneln sich in den negativen Auswirkungen bei den Betroffenen und stellen eine konstante Bedrohung für unsere demokratischen Werte in Deutschland dar. Es ist relevant, sich eingehend und kritisch mit den verschiedenen Erscheinungsformen von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus auseinanderzusetzen. Denn sobald uns die Ursachen und Formen bewusst sind, können wir uns darauf konzentrieren, diesen Erscheinungen effektiv entgegenzutreten. Das bedeutet nicht nur, problematische Aussagen in unseren eigenen religiösen Gemeinschaften und Freundeskreisen zu benennen und zu kritisieren, sondern auch gemeinsam auf lokaler und regionaler Ebene das Gespräch mit ostdeutschen Entscheidungsträgern zu suchen, um die Auseinandersetzung mit diesen wichtigen Themen und öffentliche Diskurse dazu anzustoßen. Meine Hoffnung ist, dass wir uns in der Zukunft verstärkt auf solche gemeinsamen Ziele konzentrieren und in einem überwiegend diversen, offenen und toleranten Ostdeutschland leben können.

Katrin Ikhilman

Katrin Ikhilman studiert an der Universität Leipzig und ist als Programm-Mitarbeiterin bei der jüdischen Bildungsinitiative Hillel Deutschland tätig. Sie engagiert sich bei der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und verfolgt das Ziel, junges jüdisches Leben in Leipzig und Sachsen zu stärken.

Literatur

 

Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.

El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.

Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassis­mus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.