Muslimischer Antisemitismus in Sozialen Medien
Die Studie „The rise of antisemitism online during the pandemic“ vom Institut für strategischen Dialog (ISD) analysierte Online-Inhalte in deutscher und französischer Sprache aus den Jahren 2020 und 2021. Vergleicht man die ersten beiden Monate des Jahres 2020 mit den ersten beiden des Jahres 2021, so zeigen die Ergebnisse einen siebenfachen Anstieg antisemitischer Inhalte auf Twitter, Facebook und Telegram in französischer Sprache und einen über dreizehnfachen Anstieg antisemitischer Inhalte in deutscher Sprache.
(Quelle: European Comission: The rise of antisemitism online during the pandemic – A study of French and German content. https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/d73c833f-c34c-11eb-a925-01aa75ed71a1/language-en)
Die medialen und politischen Debatten in diesem Kontext hatten vor allem rechtsextreme Milieus wie die Reichsbürger oder Querdenker im Fokus, aber jenseits der Corona-Pandemie kann man auch bei Akteuren wie Linksextremisten und Islamisten beobachten, wie die Sozialen Medien als ein Tool genutzt werden, um ihre ideologischen Inhalte einem hauptsächlich jungen Publikum nahezubringen.
Ich möchte in diesem Beitrag den Fokus auf muslimische Akteure setzen, die immer wieder mit antisemitischen Inhalten auffallen. Dabei geht es in diesem Beitrag nicht darum, einen detaillierten Überblick zu bieten. Dazu wäre eine umfangreichere Arbeit und Analyse notwendig. Vielmehr möchte ich zunächst einmal nur einige Beobachtungen teilen und damit einen ersten kurzen Einblick geben.
Bei islamistischen Akteuren in den Sozialen Medien kann man einerseits die typischen antisemitischen Narrative und Bilder beobachten, die man auch von Rechtsextremisten kennt. Wiederholt werden antisemitische Verschwörungserzählungen verwendet, denen zufolge Juden die Medien, die Finanzwelt und die Politik kontrollierten. Eine geheime jüdische Weltelite lenke im Hintergrund jede politische Entscheidung und sei verantwortlich für Kriege, Vertreibungen und Pandemien. Gerade während der Corona-Pandemie konnte man auf islamistischen Social Media-Accounts ähnliche Verschwörungserzählungen rund um Corona beobachten, die so auch eins zu eins in rechtsextremen Telegram-Kanälen zu lesen waren. Auch der Begriff ‚Lügenpresse‘ ist beliebt unter islamistischen Akteuren. Social Media-Seiten wie „Muslim interaktiv“ oder „Generation Islam“, die der in Deutschland verbotenen islamistischen Hizbutahrir-Bewegung (eine transnationale islamistische Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat das Kalifat zu errichten) zuzuordnen sind, bedienen einerseits antisemitischer Verschwörungserzählungen, vergleichen aber auch andererseits die gegenwärtige Lage der Muslime in Europa mit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus: „Die Juden von heute sind die Muslime“.
Sie zielen mit ihren hochwertig produzierten und stark emotionalisierenden Videos vor allem auf ein jugendliches Publikum ab und bedienen sich aus den Elementen der HipHop-Jugendkultur. Sportliche Männer in Hoodies und mit Sportwagen inszenieren sich in Hochglanzvideos in den Sozialen Medien und versuchen so ein junges Publikum zu adressieren.
Es sind aber nicht nur Accounts, die der Hizbutahrir-Bewegung zuzuordnen sind, die historisch völlig absurde und den Holocaust relativierende Vergleiche ziehen. Auch der Influencer Bilgili Üretmen, der der rechtspopulistischen und neoosmanischen politischen Partei AKP nahesteht, versucht bestehende Ängste bei Muslimen vor einer steigenden Muslimfeindlichkeit zu instrumentalisieren, um Ressentiments bei Muslimen gegenüber Europa und Deutschland zu schüren. Nicht nur in islamistischen Milieus wird dies praktiziert, sondern in den letzten Jahren auch verstärkt in türkisch-nationalistischen Milieus. Bilgili Üretmen heftete sich in einem Video während der letzten gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen der Terrororganisation Hamas und der israelischen Armee einen Halbmond an die Brust und verglich die Lage der Einwohner in Gaza mit der Judenvernichtung unter den Nationalsozialisten. Der Halbmond wird an dieser Stelle dem sogenannten Judenstern als öffentliches Zwangskennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden galten, nachempfunden. Das ist ein Beispiel für den in türkisch-nationalistischen Milieus stark verbreiteten israelbezogenen Antisemitismus, in dem eine Terrororganisation, wie die Hamas, romantisiert und der Staat Israel dämonisiert wird.
Wir können in den letzten Jahren verstärkt beobachten, wie islamistische und türkisch-nationalistische Akteure in den Sozialen Medien jede politische Eskalation in und um Israel instrumentalisieren, um mit gezielter Desinformation junge Muslime zu emotionalisieren und zu ideologisieren. Und man beobachtet, wie diese Akteure über derartige Inhalte ihre Reichweite vergrößern.
Warum wirkt eine solche Form der Desinformation und Manipulation? Warum gehen vor allem junge muslimische Social Media-Nutzer solchen Akteuren auf dem Leim und entwickeln – bisweilen auch unbewusst – antisemitische Ressentiments? Das sind Fragen, mit denen wir uns als muslimische Community in Deutschland auseinandersetzen müssen. Diese ideologische Stimmungsmache und Aufwiegelung funktioniert nur, weil wir als muslimische Community in Deutschland uns davor scheuen, uns mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Wir schweigen dazu, dass islamistische und türkisch-nationalistische Akteure in den Sozialen Medien unter dem Deckmantel der vermeintlichen ‚Israelkritik‘ offen antisemitische Stereotype und Ressentiments bedienen und schüren. Und manche Akteure schweigen nicht nur dazu, sondern stimmen stillschweigend diesen Inhalten zu und pflegen antisemitische Haltungen in ihren Reihen.
Die Gründe für die Scheu vieler Muslime, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, sind vielfältig. Manche Muslime haben Angst vor den Reaktionen aus der eigenen Community, wenn man sich öffentlich mit dem Problem eines muslimischen Antisemitismus auseinandersetzt. Andere befürchten mit einer Thematisierung rechten Akteuren Argumente zu liefern, um Muslime kollektiv zu diskreditieren.
Man würde erwarten, dass vor allem muslimische Verbände, die sich im öffentlichen Diskurs gerne als Religionsgemeinschaft präsentieren, Gegenangebote schaffen, um junge Muslime aufzuklären und vor dem Antisemitismus islamistischer und türkisch-nationalistischer Akteure zu schützen. Leider gibt es aus dieser Ecke keine klare Haltung gegen den Antisemitismus unter Muslimen. Stattdessen konnte man in den letzten Jahren immer wieder antisemitische Äußerungen aus diesen Verbänden vernehmen, die man nicht einfach als ‚Einzelfälle‘ deklarieren kann. Hasan Caglayan, ein Imam der DITIB, lobte auf Facebook den Gründer der Terrororganisation Hamas Scheikh Ahmed Yassin und bezeichnete ihn als Vorbild für die Jugend. Ein Vorsitzende der DITIB-Gemeinde in Göttingen teilte über Jahre antisemitische Verschwörungserzählungen über die Sozialen Medien. Ein Imam der IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüs) in Bonn teilte im Jahr 2021 ein Video auf Instagram mit klar antisemitischen Inhalten. Eines hatten diese Beispiele gemeinsam: Bis Investigativjournalisten diese Vorfälle öffentlich gemacht und thematisiert haben, hat sich niemand von den Verantwortlichen gestört gefühlt und diese antisemitischen Inhalte als Problem wahrgenommen, dem man sich als muslimische Gemeinschaft stellen muss. Das heißt, nur, wenn Journalisten diese Vorfälle thematisieren, distanziert man sich als Gemeinschaft davon.
Als deutscher Muslim muss ich leider konstatieren, dass von den bestehenden großen muslimischen Verbänden aus unterschiedlichen Gründen kaum etwas zu erwarten ist, wenn es um eine klare Haltung und Engagement gegen einen Antisemitismus in muslimischen Milieus geht. In diesem Punkt sind sie eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung.
Aber es braucht ein viel stärkeres Bewusstsein und vor allem eine klarere Haltung von der breiteren deutsch-muslimischen Zivilgesellschaft gegen den Antisemitismus aus islamistischen und türkisch-nationalistischen Milieus. Und diese klare Haltung muss auch eine öffentliche Haltung sein, damit vor allem die jungen Musliminnen und Muslime sehen, dass es andere muslimische Akteure gibt, die sich selbstkritisch und authentisch als Muslima und Muslim mit dieser Form des Antisemitismus auseinandersetzen. Der Antisemitismus in Deutschland hat zahlreiche Facetten und reicht bis in die Mitte der Gesellschaft. Er ist eine Herausforderung, mit der wir uns als Gesamtgesellschaft beschäftigen müssen. Aber wenn es um den Antisemitismus unter uns Muslimen geht, können wir die Verantwortung nicht einfach der Gesellschaft, der Politik oder der Bildung zuschieben. Das ist in allererster Linie unsere Verantwortung als deutsche Muslime. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen.
Eren Güvercin
arbeitet als freier Journalist für verschiedene Hörfunksender und Zeitungen. Er ist Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und Mitbegründer der Alhambra Gesellschaft.