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Einblicke in das ostdeutsche muslimische Feld

In bundesdeutschen Debatten rund um Muslim*innen/Islam in Deutschland werden muslimische Lebensrealitäten in Ostdeutschland mitgemeint, aber nicht mitgedacht. 2019 lebten in Ostdeutschland 3,5 % Prozent (ausgenommen: Ost-Berlin) der 5,3-5,6 Millionen Muslim*innen in Deutschland, was zwischen 185.500 und 196.000 Menschen entspricht.[1] Von den 12,5 Millionen Einwohner*innen Ostdeutschlands sind also (statistisch gesehen) zwischen 1,5 % und 1,6 % muslimisch. Trotz ihrer verhältnismäßig geringen Anzahl, ist es notwendig die Besonderheiten des ostdeutschen muslimischen Feldes herauszustellen. Islam und Muslim*innen in Verbindung mit Ostdeutschland tritt als eigenes Thema vorwiegend in Zusammenhang mit rassistischen Übergriffen oder Einstellungen der Bevölkerung auf die Tagesordnung.[2] Natürlich prägen diese Umstände die Lebenswirklichkeit vieler in Ostdeutschland lebender/ ostdeutscher Muslim*innen. Allerdings charakterisiert die Verbindung Ostdeutschland und muslimische Praxis deutlich mehr. Exemplarisch ist hier ein Blick auf Moscheegemeinden besonders zielführend, da sie Orte der Gemeinschaft, der Vernetzung und der Unterstützung sein können.

Lassen Sie uns zuerst eine Zeitreise nach Zossen in Brandenburg machen. Hier wird am 13. Juli 1915 im Stadtteil Wünsdorf zwischen dem Großen Wünsdorfer See und dem Jägersberg-Schirknitzberg ein weiß-rot-graues Gebäude mit Kuppel und spitzem Turm eingeweiht. Deutschlands erste Moschee ist Teil eines Kriegsgefangenenlagers, speziell errichtet für die dort inhaftierten, vermeintlich muslimischen Soldaten aus Frankreichs und Großbritanniens Kolonien.
[3] Bis dato befanden sich auf dem damaligen deutschen Staatsgebiet mehrere an Moscheen erinnernde Schmuckbauten,[4] die Wünsdorfer Moschee allerdings war die Erste, die zum Zwecke der Religionsausübung erbaut und 1930 wegen Baufälligkeit abgerissen wurde. Nun springen wir gut 108 Jahre in die Zukunft, Deutschland 2023. Wie hat sich die deutsche Moscheelandschaft im letzten Jahrhundert entwickelt.

Muslimisches Leben in Deutschland ist geprägt durch die Gründung der DDR und BRD und den daraus resultierenden verschiedenen Migrationsgeschichten. Bis 1988 zogen durch Arbeitsmigration, zum Studium oder aus politischen Gründen ca. 1,9 Millionen Muslim*innen in die BRD. Sie etablierten u.a. auch eine muslimische Infrastruktur – angefangen mit lose organisierten Gebetsräumen, dem Anmieten, Kauf und Neubau von Immobilien, um dort Moscheen zu etablieren und deren lokaler und später über-/regionaler Vernetzung. So entstanden nach (west-)deutschem Vereinsrecht tausende Gemeinschaften, die sich ab den 1980er Jahren zu Verbänden zusammenschlossen und sukzessive weiter ausdifferenzierten.[5] In der DDR wiederum betrug der Ausländeranteil zu Höchstzeiten um 1%, worunter sich auch vereinzelt Muslim*innen befanden.[6]

Durch ihre geringe Zahl, generelle staatliche Repression durch die DDR-Regierung, das auch die Regulierung der allgemeinen, hauptsächlich christlichen Religionsausübung umfasste, bildete sich in der DDR keine muslimische Infrastruktur heraus.[7] Heute existieren in Deutschland zwei muslimische Felder– das west- und ostdeutsche. Dies lässt sich sehr plakativ an der geografischen Verteilung der Berliner Moscheen nachvollziehen: im Teil der ehemaligen DDR befand sich 2020 nur eine Moschee, im Westteil wiederum 96.[8] Insgesamt wird geschätzt, dass es in Ostdeutschland um die 50 Moscheegemeinden gibt – von bundesweit ca. 2800.[9] Ostdeutsche /in Ostdeutschland lebende Muslim*innen haben also einen verhältnismäßig schwierigen Zugang zu Moscheen und damit auch zum öffentlichen gemeinschaftlichen Gebet, zu Dienstleistungen wie Seelsorge, Sozial- und Rechtsberatungen, Kinder- und Jugendangeboten wie Nachhilfe, Sport, Sprachkurse, religiöser Bildung, zu Gemeinschaft im Allgemeinen und dadurch zu regionalen und bundesweiten Netzwerken.

Zurück nach Brandenburg, wo die Geschichte der deutschen Moscheen begann. Seit 2015 wächst die Nachfrage nach gemeinschaftlichen Gebetsräumen. Geflüchtete, bereits in Brandenburg lebende Muslim*innen und Behörden arbeiteten eng zusammen, um neue Gebetsräume zu eröffnen.[10] Diese Zusammenarbeit steht exemplarisch für einen der größten Unterschiede zwischen dem ost- und westdeutschen Feld. Da ostdeutsche Moscheegemeinden und Muslim*innen nur lose regional oder bundesweit vernetzt sind,[11] müssen eigene Wege gefunden werden, wobei die Zusammenarbeit mit anderen lokalen Akteuren eine entscheidende Rolle spielt. Die größten Herausforderungen bilden hier die Finanzierung und die Abhängigkeit in Mietverhältnissen. Auch gemeinschaftsintern unterscheiden sich ostdeutsche Gemeinden durch eine generell höhere Heterogenität in Sprache und religiöser Praxis ihrer Besucher*innen von westdeutschen. So finden sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und religiöser Prägung in ostdeutschen Moscheen zusammen, was auch auf einem Mangel an Alternativen zurückzuführen ist.[12] Außerdem sind nicht nur die ostdeutschen Moscheevereine jünger, sondern auch die Mitgliederstruktur. Die „alternde Moschee“ ist somit Zukunftsmusik.

Im westdeutschen muslimischen Feld entstand über die letzten 60 Jahre ein Netzwerk, in dem kulturelle, finanzielle und soziale Ressourcen fließen. Außerdem wuchs das Feld mit der Zeit mit anderen sozialen Feldern zusammen, wie dem der Bildung, Politik und anderer Religionsgemeinschaften.[13] Ein ostdeutsches muslimisches Feld entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt und überlappt an gewissen Stellen mit dem westdeutschen. Jedoch holt es nicht die gleichen „Entwicklungsschritte“ wie sein westdeutsches Pendant nach, sondern bildet eigene Logiken heraus.[14] Diese Logiken lassen sich in ihren Konturen als strukturell sowie konfessionell ungebundener, vernetzungsoffen und historisch weniger tief verwurzelt beschreiben. Allerdings gehört die genaue Analyse des ostdeutschen muslimischen Feldes inklusive ihrer Genese und ihren Einzelheiten zu einem Forschungsdesiderat.

Momentan wird das ostdeutsche muslimische Feld diskursiv vom westdeutschen mitbeansprucht, sowohl innermuslimisch als auch durch andere Akteur*innen. Ostdeutsche/ in Ostdeutschland lebende Muslim*innen und ihre Lebensrealitäten werden dementsprechend mitgemeint, aber nicht mitgedacht.

Leonie Stenske

Leonie Stenske ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht auf sozialwissenschaftlicher Basis zu muslimischem Leben in Ostdeutschland und zu Mechanismen der sozialen Teilhabe mit besonderem Interesse an Ernährung und gesellschaftlichem Wandel.

Literatur

[1] Die aktuellsten statistischen Zahlen zu muslimischem Leben in Deutschland finden sich in: Katrin Pfündel et al. (2021): Muslimisches Leben in Deutschland 2020 – Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Forschungsbericht 38 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und in: Kerstin  Tanis (2021): Muslimisches Leben in Deutschland (2020): Fact Sheet zur regionalen Verteilung muslimischer Religionsangehöriger mit Migrationshintergrund aus einem muslimisch geprägten Herkunftsland nach Bundesland, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

[2] Siehe den Forschungsstand zum Thema in: Leonie Stenske und Tom Bioly (2021): Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig, 6-19, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-758592.

[3] Das Lager war Teil einer größeren Kriegsstrategie des deutschen Kaiserreichs, dem sogenannten deutschen Jihad, erdacht von Max von Oppenheim, die die Instrumentalisierung des Islam und Muslim*innen zur Grundlage hatte. Siehe hierzu: Anna-Elisabeth Hampel und Nike Löble Zwischen Ressource und Gefahr sowie Carlotta Gissler und Sophie Bärtlein (2021): Erinnern und Vergessen: Das »Halbmondlager« in Wünsdorf beides in: Leonie Stenske und Tom Bioly (2021): Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.

[4] Beispielsweise die Gartenmoschee in Schwetzingen (1795), der schwimmende Tanzsaal auf dem Gelände des Brandenburger Schlosses Dammsmühle (1894) oder die Fassade der Yenidze Tabakfabrik in Dresden (1909).

[5] Für eine Besprechung der westdeutschen Entwicklungen: Chbib, Raida (2017): Organisation des Islams in Deutschland, Baden-Baden: Ergon.

[6] Zu Muslim*innen in der DDR: Martin Zabel (2021): Von »sozialistischen Brüdern«, Konfessionslosigkeit und Selbstorganisation, in: Leonie Stenske und Tom Bioly: Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.

[7] Für eine ausführliche Besprechung des Themas DDR und Muslim*innen siehe: Marie Hakenberg und Verena Klemm (2016): Muslime in Sachsen. Geschichten, Fakten, Lebenswelten. Leipzig: Edition Leipzig, S. 13-24 oder: Anna-Elisabeth Hampel und Nike Löble (2021): Zwischen Ressource und Gefahr in: Leonie Stenske und Tom Bioly: Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.

[8] Auf Seite 3-4 des Berichts zum Islamischen Gemeinde in Berlin befindet sich eine anschauliche Karte über die Verteilung der Berliner Moscheen: EZIRE, Riem Spielhaus und Nina Mühe (2020): Islamisches Gemeindeleben in Berlin, https://www.berlin.de/sen/kulteu/religion-und-weltanschauung/artikel.720778.php.

[9] Ich berufe mich hier u.a. auf: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1223599/umfrage/geschaetzte-anzahl-der-moscheen-in-deutschland/. Allerdings ist einzuwenden, dass es keine offiziellen Angaben zur Anzahl der Moscheegemeinden in Deutschland gibt. Zahlen beruhen entweder auf Schätzungen oder entstammen Registern gut organisierter Verbände wie der DITIB oder der Ahmadiyya. Zu Vor- und Nachteilen einer genauen Übersicht zu Moscheegemeinden lohnt es sich die Debatte um die sogenannte „Islam-Landkarte“, die in Österreich von der Universität Wien herausgegeben wird, nachzuvollziehen.

[10] Für eine ausführliche Besprechung: Caspar Schliephack und Yunus Yaldiz: Jüngere Entwicklungen muslimischen Lebens in Brandenburg, in: Leonie Stenske und Tom Bioly: Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.

[11] Ausnahmen bilden hier die DITIB-Gemeinden, die Ahmadiyya und schiitische Gemeinden.

[12] Exemplarisch für mögliche Umstände einer solchen internen Heterogenität steht hier die Analyse einer Leipziger Moschee: Akim Zmerli (2021): Soziale Dynamiken und innerislamische Pluralität unter Bersucher*innen der Al-Rahman Moschee in Leipzig, in: Leonie Stenske und Tom Bioly: Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.

[13] Praktische Beispiele bilden hier das Angebot und die Ausgestaltung des Islamischen Religionsunterrichts, die Standorte der Islamische Theologien (Ausnahme HU, Berlin), die Ausgestaltung der Islamkonferenz, interreligiöser Dialog.

[14] Für eine ausführliche Besprechung siehe: Ayşe Almıla Akca (2021): Muslimisches Leben in Ost- und Westdeutschland, in: Leonie Stenske und Tom Bioly: Muslimisches Leben in Ostdeutschland, Leipzig.