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Die gesellschaftliche Konstruktion von Fremdheit in Sachsen

– eine teilnehmende Beobachtung

Anfang der 2000er Jahre wurden mehr und mehr Personen aus meinem Umfeld vom Fieber des neuen ‚El Dorados‘ erfasst. Sie machten sich gen Osten nach Leipzig auf. Welch wahnwitzige Idee in meinen Augen! Mein Bild „des Ostens“ war geprägt von den 1990ern, dem ungezügelten Hass, der rohen Gewalt. Es dauerte eine Weile, bis ich den Lockrufen und der Neugier nachgab.

Bei meinem ersten Besuch und auch den wiederkehrenden Aufenthalten war ich immer wieder fasziniert von der Stadt. Neben kargen Landstrichen lagen phantasievoll genutzte Oasen, vieles war im Umbruch, überall schienen verheißungsvolle Gestaltungsräume zu sein. Einen großen Reiz übten auch die Menschen auf mich aus. Sie wirkten so viel geerdeter, bedächtig, irgendwie konform und doch unangepasst, insgesamt so anders. Was ich vorfand, entsprach offensichtlich nicht dem, was ich mir im Vorfeld herbeifantasiert hatte. Dass es einige Freund*innen hierhin verschlagen hatte, konnte ich zunehmend besser verstehen. Für mich persönlich war die Stadt jedoch vorerst nichts, denn neben den zahlreichen positiven Seiten, hatte sie auch etwas Lähmendes für mich. Die augenfällige mangelnde Diversität und das allseits spürbare weiße Selbstverständnis wirkten abschreckend auf mich.

Allen Bedenken zum Trotz verschlug es mich Jahre später, 2011, dann doch noch nach Leipzig. Während es in den ersten Wochen für mich noch um das Ankommen in der Stadt ging, breitete sich in fast allen Begegnungen etwas Ominöses aus. Die unterschiedlichsten Menschen wollten mit mir über die Leipziger Eisenbahnstraße sprechen. Für die Ortsunkundigen sei angemerkt, dass es sich dabei um eine einst glanzvolle Einkaufsmeile handelt, die sich durch den Leipziger Osten zieht und um die herum besonders viele Migrant*innen wohnen – zumindest für ostdeutsche Verhältnisse. Ich bin ein vielseitig interessierter Mensch. Mich beschäftigen gesellschaftspolitische Fragen, ich unterhalte mich gerne über Politik und Philosophisches oder fachsimpele mit Vergnügen auch mal über Fußball. In den Begegnungen mit weißen Menschen in Leipzig ging es aber zunächst vor allem um die Eisenbahnstraße. Für sie schien ich oder das, was ich für sie repräsentierte, eine Art Katalysator und Kulminationspunkt für migrationspolitische Themen zu sein. Ich konnte den Menschen förmlich dabei zusehen, wie es sie unweigerlich zu diesem Stoff hinzog, wie Getriebene, die nicht anders können. In meiner Gegenwart wurden immer wieder negativ-pauschale Zuschreibungen in Anschlag gebracht, an mir abgearbeitet. Während ich meine Perspektive schnell an die vorgefundenen Realitäten angepasst hatte, schienen die grobschlächtigen und rassistisch-stereotypen Annahmen über mich als Migrant und Muslim nur schwer verrückbar.

Dass Handlungsunsicherheiten und Überforderungen im Kontakt mit Personen of Color (PoC) bei Angehörigen der weißen „Dominanzgesellschaft“ (vgl. Rommelspacher 1995) auftreten, ist bekannt (vgl. u.a. El-Tayeb 2016). Ebenso, dass bisweilen schematisch auf bestehende „rassistische Wissensbestände“ (vgl. Terkessidis 1998) der Gesellschaft zurückgegriffen wird, um solche Unsicherheiten zu überwinden. Selbst in liberal-progressiven Kreisen treten – entgegen den eigenen Überzeugungen – immer wieder solche Affekte, also mit rassistischem Wissen aufgeladene Gefühlszustände, hervor. Während es den entsprechenden Personen kaum auffällt oder gar legitim erscheint, verfestigt sich auf diese Weise ein „rassistisches Blickregime“ (Fanon 1952) in der Gesellschaft, das PoC im Alltag immer wieder zu Fremden stilisiert und verandert (Othering). Anders als in westdeutsch-bürgerlichen Kreisen, wo solche rassistischen „Mikroaggressionen“ (Pierce 1970) zumeist subtiler daherkommen, erschien mir hier in Sachsen der Alltagsrassismus aber noch einmal stärker, wirkte auf mich sehr viel weniger gebändigt und offener vorgetragen.

Viele Menschen waren offensichtlich kaum in der Lage, andere Anteile meiner Identität wahrzunehmen. Wiederkehrend wurde ich auf das Migrantisch- und Muslimischsein reduziert und eingeengt, auf eine Identität als „Migrationsanderer“[1] festgesetzt. Dieses Phänomen zieht sich nun seit Jahren durch mein Leben. Darüber hinaus drücken sich die rassistischen Affekte aber auch anders aus. In Angst zum Beispiel. Insbesondere in den Anfangsjahren sind mir hier viele Male Menschen buchstäblich angsterfüllt begegnet. Sie wechselten die Straßenseite, wenn sie mich auf sich zukommen sahen, beäugten mich an der Supermarktkasse, während sie vorsichtig ihr Portemonnaie hervorkramten, drückten ihre Freundinnen beschützend an sich.

Nicht selten blieben Plätze neben mir leer. In der Vorstellungswelt vieler Menschen stand ich nicht nur für das Exotische, Unbekannte, sondern offenbar auch für das Gefährliche, Unkontrollierte, potenziell Übergriffige. Ich bin als erwachsene, „gestandene“ Person in das verhältnismäßig liberal-progressive Leipzig gezogen. Häufig habe ich mich gefragt, welche Auswirkungen ein solches Umfeld auf hier aufwachsende PoC hat…

Rassistisches Wissen ist in unsere Gesellschaft eingelassen und damit auch in die Menschen eingeschrieben.[2] Wenn gesellschaftlich etablierte Sinnzusammenhänge und nahegelegte Deutungsangebote nicht bearbeitet werden, treten sie gewohnheitsmäßig hervor. In der Sozialpsychologie gibt es die sogenannte Kontakthypothese (Allport 1954). Sie besagt, dass häufiger Kontakt zu Mitgliedern anderer Gruppen, wie etwa ethnischen Minoritäten, die Vorurteile gegenüber diesen Gruppen reduziert. Wenn ich früher diese These im Zusammenhang mit Rassismus gehört habe, habe ich sie häufig belächelt. Wenn es denn nur am Kontakt liegen würde, dürfte es in einigen Regionen nur wenig Rassismus geben. Mittlerweile hat bei mir allerdings teilweise ein Umdenken stattgefunden. In den letzten Jahren konnte ich unmittelbar beobachten, wie die zunehmende Diversität der Stadtgesellschaft etwas mit einigen Leipziger*innen gemacht zu haben scheint. Viele Menschen, die sich zuvor abstrakt eine antirassistische Haltung bescheinigt haben, wurden in ihrem Alltag mit den eigenen rassistischen Affekten konfrontiert. Die Eine oder der Andere scheint dieses „Angebot“ wahrgenommen, sich kritisch damit auseinandergesetzt und die eigenen Wahrnehmungsroutinen erweitert zu haben. Entsprechend wünsche ich mir inzwischen für noch viel mehr Menschen, dass sie die Möglichkeit erhalten, ihre abstrakten Selbstbilder mit den eigenen rassistisch konnotierten emotional-körperlichen Reaktionen abgleichen zu können.

In unserer Gesellschaft wird leider immer wieder ein Denken in ‚Wir–Sie‘-Gegensätzen propagiert. Medien und Politik haben daran ihren Anteil. Um die daraus resultierenden Verhärtungen aufzulösen, braucht es eine bewusste rassismuskritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich verbreiteten Zuschreibungen, mit den eigenen Wahrnehmungsroutinen und der daraus resultierenden emotionalen Befangenheit. Es braucht aber eben auch ein wohlwollendes Umfeld, das Prozesse ermöglicht und die dafür notwendige Zeit. Gerade daran hapert es allerdings in Sachsen und weiten Teilen Ostdeutschlands. In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft fehlen die Räume für ehrliche Diskurse. Es fehlt an gewachsenen belastbaren Beziehungen zwischen weißen und PoC, die Auseinandersetzung und Wachstum ermöglichen. In vielen Regionen gibt es engagierte Menschen, die Veränderungen zum Positiven und rassismuskritische Prozesse anschieben. Und über allen Entwicklungen schwebt zugleich das Damoklesschwert des organisierten Rechtsextremismus, das alles zu zerstören droht.

Nächstes Jahr sind in Sachsen Kommunal- und Landtagswahlen. Nach aktuellen Umfragen vereint die rechtsextreme AfD fast 1/3 der Wählerstimmen auf sich. Diesen Umfragen zum Trotz hoffe ich, dass wir hier die benötigte Zeit bekommen, um diese polarisierende ‚Wir-Sie‘-Denkweise aufzubrechen.

[1] Mit der Bezeichnung des Migrationsanderen verweist Mecheril (2004) auf die rassistische Konstruktion und Hervorhebung bestimmter „natio-ethno-kulturell Anderer“ und betont, dass es Migrations-andere nicht an sich gibt, sondern dass sie nur in Relation zu „Nicht-Migrationsanderen“ diskursiv erzeugt werden.

[2] Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler beschreibt bezugnehmend auf Franz Kafka die leibliche Einschreibung von Machtverhältnissen in Körper.

Özcan Karadeniz

ist Geschäftsführer vom Dachverband sächsischer Migrant*innenorganisationen. Er ist Politikwissenschaftler und langjähriger Trainer und Referent im Bereich rassismuskritischer und politischer Bildungsarbeit im Kontext von Migration, Diversität und Empowerment. In seiner Arbeit geht es ihm um eine breitere Vermittlung rassismus- und diskriminierungskritischer Inhalte über verschiedene Formate, u.a. über den Dokumentarfilm „Spendier mir einen Çay und ich erzähl dir alles“, als Co-Kurator der Sonderausstellung „Re:Orient. Die Erfindung des muslimischen Anderen“ und als Autor und Mitherausgeber des Essaybands „Die Erfindung des muslimischen Anderen – 20 Fragen und Antworten, die nichts über das Muslimischsein verraten“. Er hat an verschiedenen Hochschulen gelehrt. Als Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit des BMI hat er zudem die Bundesregierung beraten.

Literatur

 

Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.

El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.

Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassis­mus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.