Widerstand gegen Antisemitismus in den sozialen Medien

Monika Hübscher

Am 7. Oktober 2023 verübte die Terrororganisation Hamas ein schwerwiegendes Massaker auf den Süden Israels. Die Hamas dokumentierte ihre Verbrechen umfassend und verbreitete das Filmmaterial gezielt über Social-Media-Plattformen.

Die in diesen Videos dokumentierten Grausamkeiten sind kaum in Worte zu fassen, doch das Material wurde auf Social Media vielfach verbreitet – nicht lediglich als Darstellung der Gewalt, sondern gezielt als Propagandamaterial. Die aus der Perspektive der Täter aufgenommenen Videos und Bilder sind auf allen großen Plattformen präsent und wurden ununterbrochen geteilt, was zu einer fortwährenden Reviktimisierung der Betroffenen führte.

Viele dieser Posts, die extreme Gewaltakte zeigten, wurden weltweit in den Kommentarspalten bejubelt, die Gräueltaten der Hamas als Freiheitskampf oder dekoloniale Aktionen dargestellt und die Opfer verhöhnt. Die Opfer in diesen Videos werden auf Social-Media-Content degradiert, der nach einiger Zeit aus den Newsfeeds verschwindet, nur um der nächsten Gräueltat Platz zu machen. Diese Entmenschlichung in den Videos der Terrororganisation richtete sich nicht ausschließlich, aber vor allem gegen jüdisch-israelische Opfer und findet Ausdruck in einer Flut antisemitischer Beiträge, die Gewalt gegen Jüdinnen:Juden normalisieren.

Forscher:innen dokumentierten nach dem Angriff einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Kommentare auf Plattformen wie YouTube, insbesondere unter Videos, die den Nahostkonflikt thematisieren. Auch auf Deutsch nahm die Zahl antisemitischer Äußerungen rapide zu, wie der Bericht des Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) aus dem Jahr 2023 zeigt. Diese Hasswelle beschränkte sich jedoch nicht auf den digitalen Raum: Angriffe auf Jüdinnen:Juden und jüdische Einrichtungen nahmen deutlich zu, die in sozialen Netzwerken geschürte Gewalt verließ den digitalen Raum.

Die Eskalation von antisemitischer Gewalt nach dem 7. Oktober 2023 wirft viele Fragen auf:

Wie lässt sich der Anstieg von Antisemitismus in den sozialen Medien nach dem Massaker und Terror der Hamas erklären? Was treibt die Verbreitung von Antisemitismus auf den Plattformen an und was kann man dagegen tun?

Fotocredits: Patrick Pollmeier

Heutzutage kann jeder mit einem Internetzugang antisemitische Inhalte über soziale Medien verbreiten – kostenlos, in großem Umfang und über geografische Grenzen hinweg. Antisemitismus ist nicht länger auf bestimmte Regionen oder Gruppen beschränkt, sondern erreicht durch soziale Netzwerke potenziell weltweit Millionen Menschen.

Auf Plattformen wie Facebook, Instagram, YouTube und TikTok verbreiten sich antisemitische Inhalte in Form von Posts, Reels, Videos, Memes, GIFs und sogar durch gezielte Emoji-Kombinationen. Auch digitale Symbole wie Hashtags oder Likes können dazu beitragen, antisemitische Ideen zu verbreiten.

Ein wichtiger Punkt ist, dass antisemitische Bildinhalte oft wirksamer sind als hasserfüllte Sprache. Sie überwinden Sprachbarrieren und umgehen verbale Tabus, wodurch sie leicht verstanden werden. Die ständige Wiederholung antisemitischer Bilder verstärkt die Bedeutung dieser Stereotype und Zuschreibungen und trägt dazu bei, Antisemitismus zu normalisieren. Im Gegensatz zu Hassreden, die eine sprachliche Verständlichkeit erfordern, wirken visuelle Darstellungen universell und sind deshalb besonders weit verbreitet und gefährlich.

Wie verbreitet sich Antisemitismus in sozialen Medien?

Hier spielen Algorithmen eine entscheidende Rolle. Social-Media-Algorithmen sind Programme, die festlegen, welche Inhalte wir auf den Plattformen sehen. Sie verarbeiten Daten über unser Nutzungsverhalten, unsere Vorlieben und Interessen, um uns personalisierte Inhalte und Werbung anzuzeigen. Indem sie analysieren, was wir mögen, teilen oder suchen, zielen Algorithmen darauf ab, uns zu fesseln, indem sie uns Inhalte liefern, die relevant und ansprechend erscheinen.

Das Problem liegt darin, dass Social-Media-Algorithmen nicht neutral, sondern gewinnorientiert sind. Die Plattformen basieren auf benutzergenerierten Inhalten, und die Algorithmen bevorzugen Beiträge, die die meiste Aufmerksamkeit erregen – etwa durch Likes, Shares und Kommentare – und verbreiten diese Inhalte dadurch weiter. Da Nutzer:innen viel Zeit mit solchen Inhalten verbringen, können dort beispielsweise mehr Werbeanzeigen geschaltet werden. Studien zeigen, dass gerade kontroverse oder verletzende Inhalte oft die meisten Interaktionen erzielen. Besonders alarmierend sind die Auswirkungen im Zusammenhang mit Antisemitismus, wie es auch nach dem 7. Oktober deutlich wurde.

Social-Media-Algorithmen verstärken nicht nur, was wir sehen, sondern beeinflussen auch, wie wir die Welt wahrnehmen. Wenn Nutzer:innen mit antisemitischen Inhalten interagieren, kann der Algorithmus ihnen mehr davon vorschlagen. Dadurch wird Antisemitismus normalisiert und antisemitische Überzeugungen verstärkt. Dies führt zu einem Kreislauf, in dem antisemitische Narrative immer weiterverbreitet werden.

Social Media Literacy anstatt Gegenrede

Die Funktionsweise von Algorithmen, die Inhalte verstärken, stellt den Ansatz der Gegenrede infrage. Gegenrede kann paradoxerweise die Sichtbarkeit antisemitischer Inhalte erhöhen, da Algorithmen jede Form von Interaktion – auch kritische – als Bestätigung werten und so die Bedeutung dieser Inhalte steigern. Zudem untergräbt die Verbreitung von Antisemitismus durch Social Bots und künstliche Intelligenz die Wirksamkeit von Gegenrede. Jede Reaktion auf einen Beitrag, unabhängig davon, ob sie zustimmend oder ablehnend ist, erhöht dessen Relevanz, wodurch der Inhalt noch häufiger angezeigt wird.

Basierend auf den Ergebnissen der Studie „Antisemitismus und Jugend“ wurde das Bildungsprogramm Social Media Literacy gegen Antisemitismus entwickelt. Social Media Literacy (SML) beschreibt die Fähigkeit von Nutzer:innen, Inhalte in sozialen Medien kritisch in technologischer, kognitiver und emotionaler Hinsicht zu beurteilen. Auf technologischer Ebene befasst sich SML mit der Rolle, die persönliche Daten, Algorithmen und gezielte Werbung bei der Verbreitung von Antisemitismus spielen, und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Auswirkungen. Kognitiv geht es darum, trotz sozialer Validierung wie Likes, Kommentaren oder einer hohen Followerzahl glaubwürdige Quellen zu identifizieren sowie Hassrede und Desinformation im Zusammenhang mit antisemitischen Inhalten zu erkennen. Auf emotionaler Ebene stärkt SML die Fähigkeit, angemessen und reflektiert auf antisemitische Inhalte zu reagieren.

Die Fähigkeit zur Dekonstruktion antisemitischer Inhalte ist entscheidend für die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in sozialen Medien. Dekonstruktion bezieht sich auf das Aufschlüsseln und Verstehen der komplexen Bedeutungen, die in Begriffen, Phrasen und Bildern enthalten sind, die antisemitische Stereotype und Ideologien transportieren. Sie beinhaltet eine kritische Analyse falscher Behauptungen, Mythen und Stereotypen, die historische Fakten und die Bedeutung des Holocausts untergraben und Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden aufrechterhalten. Dazu gehört auch, verschiedene Formen der Holocaust-Verzerrung, -Leugnung und antisemitische Narrative zu erkennen, einschließlich der Verharmlosung des Holocausts, der Leugnung seiner Fakten oder des Ausmaßes des Genozids sowie der Verbreitung negativer Stereotype und Verschwörungsmythen.

Ein wesentlicher Aspekt der Dekonstruktion ist das Verständnis der historischen Wurzeln des Antisemitismus, der jahrhundertelangen Verfolgung, Diskriminierung und Gewalt gegen jüdische Menschen und der fortgesetzten Formen dieser Diskriminierung in der Gegenwart. Es ist auch wichtig, die Verflechtung von Antisemitismus mit anderen Diskriminierungsformen, wie Rassismus, Sexismus und Hass gegen die LGBTQI+-Community, zu erkennen und zu verstehen.

Zur wirksamen Bekämpfung von Antisemitismus in sozialen Medien ist eine Verbindung von SML und Dekonstruktionsfähigkeiten notwendig. Nutzer:innen werden empowert, Social-Media-Inhalte kritisch zu analysieren, um antisemitische Tropen und Stereotypen zu erkennen und die Mechanismen hinter solchen Inhalten zu verstehen. Bildungskonzepte für SML sollten dabei auch Strategien zur verantwortungsvollen Nutzung sozialer Medien vermitteln, etwa die bewusste Entscheidung, antisemitische Inhalte nicht durch Teilen oder Kommentieren zu verbreiten.

Anstelle der Gegenrede können Nutzer:innen durch Bildungsmaßnahmen dazu befähigt werden, dekonstruierte Inhalte zu veröffentlichen. Dies bedeutet, antisemitische Inhalte so zu kommentieren, dass antisemitische Bezüge aufgedeckt und erklärt werden, ohne diese durch direkte Konfrontation weiter zu verbreiten. Statt mit argumentativen Kommentaren auf antisemitische Inhalte zu reagieren, können aufklärende Beiträge gepostet werden, die Antisemitismus entlarven, aufklären und Solidarität mit Betroffenen zeigen. Die Veröffentlichung solcher dekonstruktiven Inhalte kann die Technologie sozialer Medien zu einem Bildungsinstrument machen und im Sinne einer empowernden Widerstandsstrategie dazu beitragen, Antisemitismus wirksam entgegenzutreten und die Plattformen sicherer und inklusiver zu gestalten.

Quelle: Monika Hübscher und Nicolle Pfaff, Social Media Literacy gegen Antisemitismus

Monika Hübscher

Monika Hübscher ist interdisziplinäre Antisemitismusforscherin an der Universität Duisburg-Essen sowie an der University of Haifa. Ihre Forschung untersucht die Wechselwirkungen zwischen Antisemitismus und den Mechanismen von Social-Media-Algorithmen und -Funktionen. Auf Basis ihrer Forschungsergebnisse entwickelt sie innovative Bildungskonzepte und -materialien. Derzeit ist sie Co-Leiterin des Forschungs-und Bildungsprojekts „Social Media Literacy gegen Antisemitismus“ und hält Vorträge sowie Workshops zu diesem Themenbereich.

Literatur

 

Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.

El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.

Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassis­mus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.