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Navid Wali

Meine Arbeit in den sozialen Netzwerken ist zuerst eine Form von persönlicher Selbstfürsorge und Aufklärung. Durch sie schaffe ich mir einen Rahmen, in dem ich Dissens und Unstimmigkeiten zulasse und dabei versuche sichere Bedingungen anzubieten, um die eigenen Standpunkte im Bezug zu religiösen Themen offen und frei äußern zu können. In digitalen, öffentlichen Räumen lassen sich natürlich keine safer spaces schaffen, allerdings filtere ich beispielsweise gezielt problematische und extremistische Kommentare heraus, kennzeichne diese, oder kläre über ihre ideologischen Hintergründe auf.

Dabei ist meine Motivation nicht allein das Vermitteln von Informationen und Einsichten zum religiös begründeten Extremismus. Zudem möchte ich Impulse in die eigene Community geben, um die Deutungshoheit in Glaubensangelegenheiten, nicht den virtuell Lautesten zu überlassen.

Die letzten Jahre haben mir gezeigt, dass die sozialen Medien ein unverzichtbares Tool im Kampf gegen extremistische Ideologien geworden sind. Durch die Reichweite und die Möglichkeiten zur Vernetzung bieten diese Plattformen die Möglichkeit, Menschen zu erreichen und aufzuklären. Sowohl in der Extremismusprävention als auch im interreligiösen Dialog begann mein Weg aus dem Bedürfnis heraus, Missverständnisse und Vorurteile abzubauen.

Die verschiedenen digitalen Räume sind im Bereich religiöser Inhalte maßgeblich in Geiselhaft problematischer Strömungen, die dort nahezu hegemonial agieren. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um salafistische Akteure, seit dem 7. Oktober 2023 geraten auch immer mehr Kanäle in den Fokus, die der verbotenen islamistischen Politsekte „Hizb ut-Tahrir“ zugeordnet werden. Gibt man beispielsweise ein Schlagwort in Verbindung zum Islam in die Suchleiste gängiger Plattformen ein, dauert es nicht lange, bis einem die ersten problematischen Akteure Antworten zu diesen Themen und Fragen liefern. Diese sind bewusst intransparent mit ihren theologischen Denkschulen und Strömungen und geben sich nach außen – für den Laien nicht erkennbar – als besorgte Glaubensgeschwister, die Menschen mit religiösen Bedürfnissen und Fragen lediglich eine Hilfe sein wollen.

Fotocredits: ZDF, "Eine islamistische Polit-Sekte!"

Im interreligiösen Dialog habe ich die Erfahrung gemacht, dass es zum einen mehr um den Repräsentationsanspruch einzelner Akteure in diesen Formaten geht – womit häufig auch der Anspruch auf Deutungshoheit einhergeht – und es sich zum anderen weniger um einen wirklichen Dialog und Austausch handelt.

Derlei Erfahrungen waren Anlass dafür, meinen eigenen Rahmen schaffen zu wollen. Einen Rahmen, welcher sich nicht von Dogmen und Vorgaben vorschreiben lässt, was öffentlich laut und leise gedacht werden darf und sollte. In der Vergangenheit habe ich durch gezielte Beiträge versucht, Diskussionen anzuregen und dabei radikale Ideologien zu entlarven und gleichzeitig alternative Perspektiven aufzuzeigen. Mittels Aufklärung und interreligiösem Dialog versuche ich Brücken zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen zu schaffen und eine offene und ehrliche Diskussionskultur zu fördern.

Wir alle tragen Verantwortung Extremismus entgegenzutreten

Eine meiner tiefen Überzeugungen ist, dass wir alle Verantwortung tragen, Extremismus in jeglicher Form entgegenzuwirken. Extremisten wissen vor allem in digitalen Räumen, in welchem Licht sie sich darzustellen haben, um dann einen entsprechend groß wirkenden Schatten zu werfen. Seit Mitte der 2000er und den ersten öffentlichen Auftritten problematischer religiöser Laienprediger musste ich zunehmend beobachten, wie es derartige extremistische Akteure geschafft haben, den Diskurs zu verschieben und konkurrenzfähig zu werden. Laienprediger wie Pierre Vogel, Ibrahim Abu Nagie, Hassan Dabbagh und viele andere deutschsprachige salafistische Akteure haben ab Mitte der 2000er immer wieder zu Hauptsendezeiten eine Bühne der Selbstdarstellung und -vermarktung geboten bekommen, ohne dass sie ausreichend kritisch hinterfragt und angemessen eingeordnet wurden. Dadurch hat die Mehrheitsgesellschaft den falschen Eindruck bekommen, genannte Persönlichkeiten würden eine Form von akzeptierter muslimischer Gelehrsamkeit darstellen. Zudem konnten solche, zum Teil stereotyp weltfremden wahhabitischen Laienprediger, immer stärker ihren Weg in die Mitte der muslimischen Communities finden.

Zwischen Realität und verschobener Diskurswahrnehmung

Um die Diskrepanz zwischen Realität und verschobener Diskurswahrnehmung zu veranschaulichen, muss man sich einfach nur folgende Angaben vor Augen führen: Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz wird der salafistischen Lesart des Islams in Deutschland ein Personenpotenzial von etwa 12.500 Anhängern zugerechnet. Geschätzt wird, dass hierzulande rund 5,5 Millionen Musliminnen und Muslime leben. Damit stellen Anhänger des Salafismus deutlich weniger als ein Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime dar. Aufgrund der medial öffentlich wirksamen Auftritte in renommierten Talkshows sind eine Handvoll salafistischer Laienprediger der Mehrheit unserer Gesellschaft bekannter als jeder gut ausgebildete muslimische Theologe.

Die Folgen dieser Diskursverschiebung waren zuletzt in der Talkrunde beim ZDF von Markus Lanz vom 18. April 2024 gut zu beobachten. Zu Gast waren CDU-Politiker Herbert Reul, Journalistin Eva Quadbeck, Autor Eren Güvercin und Migrationsexpertin Souad Lamroubal. In der Sendung sollten die Auswirkungen der Entwicklungen im Nahen Osten für Deutschland diskutiert werden. In diesem Kontext wurde auch über eine wahrgenommene gestiegene Radikalisierung junger muslimischer Menschen, Schwierigkeiten bei der Integration und das Frauenbild in den verschiedenen Communities in Deutschland gesprochen.

Während der Diskussion wird ein TikTok-Video eingespielt, in dem ein Laienprediger erklärt, unter welchen Umständen ein WhatsApp-Chat zwischen einem Muslim und einer Muslimin nach religiösen Vorstellungen erlaubt sei, wenn sie sich kennenlernen möchten. Im Video erklärt dieser Laienprediger weiter, um Versuchung und unzüchtiges Verhalten in der Kennenlernphase zu vermeiden, solle man einen sogenannten rechtlichen Vormund der Muslimin in den WhatsApp-Chat hinzufügen, damit dieser die Unterhaltung überbewachend mitlesen kann. Auf Nachfrage des Moderators, ob die Migrationsexpertin Lamroubal, das gezeigte Video kritisch findet, antwortet sie: „Das ist der Islam.“ Das Fatale an dieser Aussage ist zum einen, dass die Botschaft aus dem gezeigten Video nicht „der“ Islam ist und zum anderen, dass es sich bei dem gezeigten Laienprediger um eine der aktuell einflussreichsten Szenegrößen des deutschsprachigen Salafismus handelt. Dieser Laienprediger ist nicht nur ein Star in der Salafistenszene und taucht immer wieder in Verfassungsschutzberichten auf, sondern auch Anhänger einer weltfremden Lesart des Islams, dessen Gruppe – wie oben erwähnt – weniger als ein Prozent der in Deutschland lebenden Muslime ausmacht. Wenn also eine Expertin für Migration und Integration und Muslimin wie Lamroubal zur Hauptsendezeit in einem der bekanntesten Talkshowformate einen vom Verfassungsschutz beobachteten Laienprediger als „normalen“ Islam deklariert, hat es weniger mit ihren persönlichen Glaubensüberzeugungen zu tun, als mit der erfolgreichen Diskursverschiebung islamistischer Akteure.

Extremistische Akteure, die in nicht-digitalen Räumen nur vereinzelt Zugang zu muslimischen Communities und zur Mehrheitsgesellschaft hatten, haben sich durch ihre Auftritte in digitalen Räumen eine Bühne schaffen können, um einen legitim wirkenden Repräsentationsanspruch zu erheben. Eine Folge davon ist, dass sie in Talkshows eingeladen werden. Das zeigt, wie ihr Auftreten in sozialen Medien in andere Bereiche der Öffentlichkeit hineinwirkt. Vor allem geht es ihnen um die alleinige Deutungshoheit im Hinblick auf theologische Fragen muslimischen Lebens und die Definition von religiös begründetem Extremismus.

Der tatsächlich vorherrschende antimuslimische Rassismus ist für extremistische Akteure immer wieder eine günstige Ausgangsbedingung, Zugang zu Musliminnen und Muslimen zu bekommen, um sie dann für ihre Ideologie zu instrumentalisieren. Dass sie keine tatsächlichen Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbieten können, spielt letztendlich keine Rolle, da sie den Zugang ohnehin lediglich auf einer rein emotionalen Ebene suchen.

Jeder Beitrag, den ich auf den sozialen Medien veröffentliche, soll ein Schritt Richtung Aufklärung und Prävention sein. Ich möchte Menschen dazu bewegen, ohne Furcht zu ihren Wahrnehmungen zu stehen. Extremisten sind Meister darin, die eigene Wahrnehmung zu manipulieren und Menschen dazu zu bringen, sich selbst nicht mehr zu vertrauen. Insbesondere im Mantel des religiösen Dogmas schaffen sie es immer wieder, mündige Gläubige unmündig werden zu lassen.

Risiken öffentlicher Kritik

In meiner Erfahrung habe ich gelernt, dass öffentliche Kritik und eine klare Positionierung zu diesen Akteuren mit einem hohen Preis verbunden sind. Ein Tiefpunkt war, dass ich 2022 über den Staatsschutz erfahren musste, dass ein szenebekannter salafistischer Prediger versuchte meine persönliche Anschrift in Erfahrung zu bringen. Das zuständige Polizeipräsidium teilte mir mit, dass der salafistische Prediger konkret nach Informationen und Auskünften über meine Person gefragt hat und der Staatsschutz von einer konkreten Gefahrenlage gegenüber meiner Person ausgeht. Beim salafistischen Prediger erfolgte eine Hausdurchsuchung sowie eine Gefährderansprache. Mir wurde eine Kurzwahl zum Staats- und Personenschutz angeboten, zusätzlich hat man die örtlichen Polizeipräsidien sensibilisiert, damit ich im Falle einer konkreten Gefahrenlage keine langen Wege habe.

Ein Lichtblick hingegen sind die endlosen positiven Nachrichten, in denen Menschen mir Dank für meine Arbeit zum Ausdruck bringen. Andere berichten, dass sie aufgrund der Beiträge in ihrem Heilungsprozess von religiösem und spirituellem Missbrauch eine lang ersehnte Genugtuung verspüren, wenn extremistische Akteure öffentlich benannt und kritisiert werden.

Interreligiöser Dialog und soziale Medien

Um den interreligiösen Dialog in den sozialen Netzwerken zu stärken, sind einige Veränderungen und Anstrengungen erforderlich. In einer Zeit, in der vor allem jüdisch-muslimische Begegnungen als Projektionsfläche diverser Konflikte und Herausforderungen dienen, ist es wichtig, dass Dialogformate nicht zu einem Politikum werden. Den verschiedenen Bemühungen im Kontext interreligiöser Dialogformate soll hier nicht die Legitimität abgesprochen werden, allerdings fehlt mir persönlich in der Regel die authentische persönliche Begegnung, abseits von öffentlichkeitswirksamen Treffen vor Publikum und Medien.

Die sozialen Medien bieten das Potenzial, verschiedenste Menschen aus der Gesellschaft miteinander zu vernetzen. Bevor es zu einem öffentlichen interreligiösen Dialog kommt, sollten wir uns als Individuen die Zeit nehmen, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören und uns gegenseitig kennenzulernen. Dazu bedarf es nicht in erster Linie politischer oder öffentlicher Institutionen, sondern erst einmal der Möglichkeit der eigenständigen Vernetzung. Dabei können soziale Netzwerke eine entscheidende positive Rolle spielen. Im Laufe meiner Arbeit in den sozialen Netzwerken habe ich jüdische, christliche, atheistische Freunde und Freundinnen gewinnen dürfen. Zudem sind auch neue Kooperationen entstanden, wie ein multireligiöses Comedyformat, welches in der Form erstmalig vor kurzem in Berlin stattgefunden hat. Das Format „What the Falafel – eine multireligiöse Comedy-Show“ soll in Zeiten voller Krisen und stetig wachsender gesellschaftlicher Spaltung wieder Räume der Versöhnung und Erleichterung schaffen (Bilder und ein Reel von der Veranstaltung).

Abschließend möchte ich betonen, dass die Haltung jedes einzelnen von uns von höchster Bedeutung und nicht zu unterschätzen ist. Wir müssen uns wieder auf authentische persönliche Begegnungen einlassen, das Gegenüber in der Selbstdefinition kennlernen und versuchen, von der jahrelang dominierenden Fremdbestimmung des vermeintlich Anderen wegzukommen. Soziale Medien sind gute Orte, um sich zu vernetzen – ersetzen aber nicht den direkten Austausch und die damit verbundenen persönlichen Erfahrungen.

Aufgrund des wachsenden Risses in der Gesellschaft ist es wichtiger denn je, Räume für eine gesamtgesellschaftliche Versöhnung zu schaffen. In Zukunft wird es noch wichtiger sein, Impulse für positiven Wandel zu suchen und davon auch in schwierigen Zeiten überzeugt zu bleiben. Durch gemeinsames Engagement können und müssen wir auch in den sozialen Medien Räume für Dialog und Aufklärung schaffen.

Navid Wali

Navid Wali ist Experte für Extremismusprävention und arbeitet für das Violence Prevention Network in Frankfurt am Main. Mit seinem Hintergrund in Medien- und Religionspädagogik setzt er sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Aufklärung ein. Auf Instagram teilt er unter @theplugnavid Einblicke in seine Arbeit und vermittelt Wissen zu Prävention, Radikalisierung und interkulturellem Dialog.

Literatur

 

Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.

El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.

Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassis­mus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.