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Die Massenmedien haben das Religionsverständnis revolutioniert

Dr. Ali Ghandour | @alichemistic.fragments

Die Massenmedien haben das Religionsverständnis revolutioniert. Wo früher der direkte Kontakt zwischen Redner und Zuhörer nötig war, konnten Prediger im 20. Jahrhundert dank Radio und Fernsehen Millionen Menschen erreichen – oft ohne deren Lebenswelten zu kennen. Besonders Salafisten und Muslimbrüder erkannten früh das Potenzial dieser Technologien. Ab den 90ern boomten von Saudi-Arabien finanzierte TV-Sender, die salafistische Inhalte verbreiteten. Im deutschsprachigen Raum überfluteten sie ab den 2000ern das Internet mit Videos, Foren und PDFs – und kaum Gegenstimmen. Die digitale Landschaft war damals noch weitgehend unreguliert, extremistische Inhalte leicht zugänglich.

Um dieser Entwicklung etwas entgegenzuwirken, gründete ich 2005 gemeinsam mit Freunden eine Initiative. Bis 2011 erstellten wir Websites, betrieben ein Forum und produzierten Low-Budget-Videos, um den salafistischen Narrativen Paroli zu bieten. Doch unsere Bemühungen wurden oft belächelt oder als spaltend empfunden, da vielen in der muslimischen Gemeinschaft die Gefahren dieser Ideologien noch nicht bewusst waren. Erst 2011 setzte ein Umdenken ein, als die verheerenden Auswirkungen der Radikalisierung auf westliche Gesellschaften immer deutlicher wurden, insbesondere durch den Zulauf zum sogenannten Islamischen Staat. Plötzlich war die Lage ernst – es ging um Leben und Tod.

Man darf nicht vergessen, dass salafistische Strömungen und andere ideologische Gruppen zu den ersten gehörten, die das Potenzial der sozialen Medien erkannten und für sich nutzten.

Das Besondere an den sozialen Medien lässt sich meiner Meinung nach auf drei wesentliche Punkte reduzieren, die sie von anderen Medien unterscheiden:

Erstens ist es die Geschwindigkeit, mit der Inhalte verbreitet werden können. Ein Klick auf „Gefällt mir“, ein Kommentar oder das Teilen eines Beitrags genügen, damit er sofort von anderen gesehen und weiterverbreitet wird.

Zweitens ist es die Macht der Algorithmen. Während man früher aktiv nach bestimmten Inhalten suchen musste, werden Inhalte mittlerweile algorithmisch für uns ausgesucht und vorgeschlagen. Hat man einmal etwas geliked oder ein Video länger angesehen, bekommt man automatisch ähnliche Inhalte vorgeschlagen, wodurch man schnell in spezifische Nischen abgleitet.

Drittens ist es das Gefühl, dass die eigene Meinung von vielen anderen geteilt wird. Man bewegt sich zunehmend in einer geschlossenen Blase, in der abweichende Positionen kaum noch wahrgenommen werden.

Dieses Potenzial war der Grund, warum ich ab 2012 meine Aktivitäten verstärkt auf Facebook verlagerte, um dort über Salafismuskritik und die religiöse Vielfalt aufzuklären. Doch ab 2015 zeigte sich, dass ich die Menschen, die ich erreichen wollte, auf Facebook – der Plattform der Boomer – immer weniger erreichte. Daher wechselte ich zu Instagram, was für mich einem modernen Exodus gleichkam.

Wenn ich meinen Instagram-Kanal beschreiben müsste, würde ich ihn als einen lockeren Bildungskanal bezeichnen. Das Ziel ist es, seriöse Inhalte und den aktuellen Forschungsstand aus dem akademischen Bereich auf eine entspannte und teilweise humorvolle Weise zu vermitteln. Dabei habe ich drei Hauptzielgruppen vor Augen.

Meine erste Zielgruppe sind Muslim:innen, die sich keiner Gemeinde zugehörig fühlen oder sich davon distanziert haben. Viele von ihnen haben eine traditionelle Erziehung erfahren, doch irgendwann geriet ihr Islamverständnis in Konflikt mit ihrer Lebenswirklichkeit. Sie zogen sich zurück, suchten nach Alternativen oder wandten sich ganz vom Glauben ab. Ich biete ihnen keine Missionierung, sondern eine Alternative, um Fragen zum Glauben, zur Praxis oder kritischen Stellen in der muslimischen Geschichte neu zu betrachten. Auch für Ex-Muslim:innen kann es hilfreich sein, eine gesunde Distanz zu entwickeln und sich mit diesem Teil ihres Selbst zu versöhnen.

Die zweite Gruppe, die ich ansprechen möchte, sind Menschen, die nicht radikalisiert, aber von ideologischen Strömungen beeinflusst sind. Mit meiner „Schocktherapie“ präsentiere ich ihnen Fakten zur muslimischen Geschichte und Theologie, die im positiven Sinne „verwirren“. So versuche ich ihre Ansichten auf den Kopf zu stellen. Im besten Fall beginnen sie, Fragen zu stellen und ihre Überzeugungen zu hinterfragen. Diese Methode entfaltet ihre Wirkung nicht sofort, sondern langfristig und hat sich in der Vergangenheit oft bewährt.

Ich erhalte oft Nachrichten von Menschen, die schreiben: „Anfangs konnte ich mit deinen Inhalten nichts anfangen, aber sie haben mich beschäftigt. Jetzt sehe ich die Dinge anders und möchte dir danken.“ Diese Methode zielt darauf ab, Menschen langfristig zu erreichen, indem ich kontinuierlich Fakten liefere, die in Moscheen oder Standardbüchern selten erwähnt werden, aber Teil der muslimischen Tradition sind. Oft handelt es sich um weniger strenge Positionen zur Glaubenspraxis, die das Leben erleichtern und dennoch theologisch berechtigt sind.

Die dritte Gruppe, die ich erreichen möchte, sind Nicht-Muslime, die neugierig und daran interessiert sind, andere Perspektiven innerhalb der muslimischen Tradition kennenzulernen – Perspektiven, die über das hinausgehen, was man in klassischen Strukturen erfährt. Durch meine Arbeit versuche ich ihnen einen differenzierten Blick auf Muslim:innen und verwandte Themen, die sonst oft einseitig dargestellt werden, zu vermitteln.

Meine Motivation hat viel mit meinem Verständnis von Theologie und meiner Arbeit als Theologe zu tun. Theolog:innen können sich den Elfenbeinturm der Wissenschaft nicht leisten. Eine Theologie, die die Menschen nicht erreicht, ist defizitär. Historisch waren Theolog:innen immer nah an den Menschen und nutzten die verfügbaren Mittel, um mit ihnen zu kommunizieren. In Zeiten der sozialen Medien fehlt jedoch der Dialog zwischen Theologie und Öffentlichkeit, was ich bei Theolog:innen und muslimischen Strukturen kritisiere. Es mangelt an Interesse an qualitativ hochwertiger Glaubenskommunikation in sozialen Medien. Diese Lücke wird häufig von problematischen Akteuren gefüllt.

Ein Blick auf Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube zeigt, dass die Mehrheit der Stimmen zum muslimischen Glauben von Influencer:innen und Prediger:innen aus der salafistischen Szene oder Gruppen wie Hizb at-Tahrir kommen. Diese erreichen vor allem Jugendliche mit professionell aufbereiteten Inhalten und haben zehntausende Follower.

Menschen wie ich, die Alternativen bieten möchten, arbeiten meist ehrenamtlich und nicht professionell genug. Wir produzieren Inhalte, wenn wir Zeit haben, aber es ist nahezu unmöglich, große Kanäle mit Tausenden Followern allein zu managen, besonders mit weiteren Verpflichtungen. Diese Herausforderung motiviert mich dennoch, etwas Alternatives anzubieten. Ein weiterer Grund, warum ich auf sozialen Medien aktiv bin, ist die Freiheit, die sie mir bieten. Hier kann ich offen über das sprechen und schreiben, was ich den Menschen vermitteln möchte. Ich bin weder an einen Lehrplan noch an Dogmen gebunden, wie es oft der Fall ist, wenn man in Moscheen und Gemeinden tätig ist.

Zudem ermöglichen die sozialen Medien es mir, mehr Menschen zu erreichen, als es je in einer Moschee möglich wäre. Meine Zielgruppe findet sich ohnehin selten in klassischen religiösen Räumen. Auch meine Art, über Religion zu sprechen, passt oft nicht ins traditionelle Bild. Ich kombiniere Inhalte mit Humor, weil ich finde, dass dieser beim Sprechen über Religion oft fehlt. Humor kann helfen, neue Perspektiven einzunehmen und komplexe Themen zugänglich zu machen.

Manchmal bringt ein Meme mehr auf den Punkt als ein langer Text. Humor verbreitet sich schnell, und durch die Teilnahme am Meme-Diskurs werden meine Inhalte auch algorithmisch häufiger empfohlen. Auf meinem Instagram-Profil poste ich abwechselnd humorvolle und sachliche Inhalte, um es abwechslungsreich zu halten.

Meine Stories sind vielfältig: Sie handeln nicht nur von Religion, sondern auch von Videospielen, Fußball und Alltäglichem. Dazu gehört auch Tee – daher mein Name esoteeriker. Mir ist es wichtig, mich als Mensch zu zeigen, denn niemand ist 24 Stunden am Tag Theologe. So erreiche ich Menschen, die ich mit rein theologischen Inhalten nicht ansprechen würde. Auch wenn einige meine Positionen nicht teilen, verbinden uns vielleicht dieselbe Fußballmannschaft oder das gleiche Videospiel – und solche Gemeinsamkeiten öffnen Türen für ernstere Themen.

Die positiven Aspekte sozialer Medien dürfen aber nicht deren negative Seiten, besonders in Bezug auf Hate Speech, überschatten. Plattformen haben Werkzeuge entwickelt, um gegen Hass vorzugehen, auch wenn diese noch einiger Verbesserung benötigen. Auf meinem Kanal darf jeder seine Meinung äußern, aber ich reagiere konsequent, wenn es beleidigend wird, und blockiere solche Personen. Zum Glück haben sich negative Kommentare in den letzten Jahren verringert. Besonders auf Instagram erhalte ich kaum noch solche Kommentare, oder sie werden automatisch herausgefiltert.

Abschließend bleibt für mich die Überzeugung, dass soziale Medien ein wichtiger Ort für den Dialog über den muslimischen Glauben und seine Vielfalt sind. Trotz der Herausforderungen sehe ich die enorme Chance, die neue Formaten und kreative Ansätze bieten. Besonders wünsche ich mir mehr Zusammenarbeit zwischen den vereinzelt agierenden Akteuren sowie einen stärkeren Austausch mit anderen Religionsgemeinschaften. Nur gemeinsam können wir den Dialog fördern, Vorurteile abbauen und eine positive Veränderung bewirken. Die sozialen Medien ermöglichen es uns, Barrieren zu durchbrechen, Nähe zu schaffen und gemeinsam zu wachsen. Auch wenn meine Arbeit manchmal wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirkt, weiß ich, dass jeder Mensch, den ich erreiche, zählt. Denn das ist immer noch wertvoller, als das Feld problematischen Akteuren zu überlassen.

Dr. Ali Ghandour

Dr. Ali Ghandour ist Juniorprofessor für islamische Theologie an der Universität Hamburg und ein innovativer Vermittler islamischer Themen in den sozialen Medien. Auf Instagram, wo ihm mehrere Tausend Menschen folgen, kombiniert er humorvolle Memes mit fundierten, quellenbasierten Beiträgen zu komplexen Fragen wie interreligiösen Ehen, Abtreibung oder der Rolle von Musik im Islam. Seine Strategie besteht darin, über humorvolle Inhalte ein breites Publikum zu erreichen und dieses für tiefgründige Diskussionen zu sensibilisieren. Geboren in Casablanca, Marokko, und mit 18 Jahren nach Deutschland gekommen, studierte er Politikwissenschaft und Arabistik in Leipzig und spezialisierte sich früh auf islamische Theologie. Mit seinen Arbeiten, etwa zur Sexualmoral im Islam, strebt er eine moderne, kritische Auseinandersetzung mit der Tradition an, ohne den Respekt vor historischen Texten zu verlieren. Dr. Ghandour verbindet so akademische Expertise mit kreativem Online-Engagement, um eine zeitgemäße und offene Diskussion über den Islam zu fördern.

Literatur

 

Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.

El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.

Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassis­mus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.