Antisemitismus in den sozialen Medien junger Menschen und Medienkompetenzstrategien zu dessen Bekämpfung
Antisemitismus ist kein neues Phänomen, sondern ein altes Problem, das sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder an neue gesellschaftliche Umstände angepasst hat. Schon im antiken Griechenland, also lange vor der Entstehung des Christentums, wurden Juden als “anders” und “böse” dargestellt. Diese negativen Stereotype – wie die Vorstellung, dass Juden Kinder oder Jesus Christus ermorden oder besonders habgierig und böswillig seien – haben sich bis heute gehalten, werden im Internet auch heute noch weiterverbreitet und sind zum Teil derart normalisiert, dass man sie nicht (mehr) als Antisemitismus erkennt. Besonders alarmierend ist der 50-fache Anstieg antisemitischer Kommentare in sozialen Medien nach den Terroranschlägen der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023.
Im Netz wird Antisemitismus auf verschiedene Weise ausgedrückt. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte “Happy Merchant”-Meme, das den antisemitischen Stereotyp des angeblich geldgierigen und betrügerischen Juden weiterverbreitet. Aber es bleibt nicht nur bei diesen alten Vorurteilen: Häufig werden auch die Schrecken des Holocausts geleugnet oder verharmlost. Einige behaupten sogar, dass die Juden selbst schuld an ihrem Schicksal seien oder dass der Holocaust gar nicht so schlimm gewesen sei. Besonders explizit sind Schlussstrichforderungen, die Schulddiskursen in Deutschland ein Ende setzen wollen. Antisemitismus ist dabei wie ein Chamäleon, das sich an aktuelle gesellschaftliche Themen anpasst. So haben während der Corona-Pandemie antisemitische Verschwörungstheorien wieder zugenommen. Manche behaupteten, das Virus sei von Juden geschaffen worden, und verwiesen dabei auf die jüdische Herkunft des Pfizer-CEOs. Auch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg tauchen antisemitische Narrative auf, etwa wenn Russland seine Aggression als Versuch rechtfertigt, die Ukraine zu “entnazifizieren”.
Das heutige Gesicht des Antisemitismus zeigt sich im Internet in der sogenannten “Israelkritik”. Dabei wird Israel häufig in einer Art und Weise diffamiert, die deutlich über legitime politische Kritik hinausgeht. Israel wird dann als brutaler Aggressor dargestellt, der absichtlich Unheil in der Welt anrichtet – ein Bild, das stark an klassische antisemitische Verschwörungen erinnert. Allerdings ist nicht jede Kritik an Israel antisemitisch. Es gibt klare sprachliche Merkmale, die antisemitische Angriffe auf Israel von legitimer Kritik unterscheiden. So wird Israel oft „delegitimiert“, das heißt, seine Existenz als legitim abgesprochen, oder „dämonisiert“, indem es als einziges Land für bestimmte Missstände verantwortlich gemacht wird. Solche Darstellungen schaffen ein einseitiges und verzerrtes, also „derealisiertes“ Bild von Israel und knüpfen direkt an traditionelle antisemitische Vorurteile an.
Die hohe Prävalenz von Antisemitismus in sozialen Medien und sein chamäleonartiger Charakter setzen Mediennutzer:innen einem hohen Risiko aus, mit antisemitischen Sichtweisen konfrontiert zu werden und diese sogar in die eigene Denkweise zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, die viel Zeit im Netz verbringen, wenig bis gar nichts über Judenfeindlichkeit wissen und sich in einer sensiblen Phase der Identitätsbildung befinden. Die Forschung hat zeigen können, dass antisemitische Hassrede im Internet schwerwiegende Folgen hat für alle, die damit konfrontiert werden. Besonders betroffen sind die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen. Viele Menschen, die Hassrede konfrontiert werden, leiden unter Angstzuständen, Sorgen um potenzielle Belästigungen und Schlafstörungen. Jüdinnen und Juden fühlen sich besonders in den sozialen Medien durch antisemitische Inhalte bedroht. Doch nicht nur direkt Betroffene sind gefährdet. Auch Menschen, die nicht zur angegriffenen Gruppe gehören, können stark unter den negativen Auswirkungen leiden. Studien zeigen sogar, dass sie oft noch stärker betroffen sind, weil sie weniger an solche Hassbotschaften gewöhnt (oder für sie sensibilisiert) sind. Hassrede kann zudem Vorurteile zwischen verschiedenen Gruppen verstärken und weitere Feindseligkeiten schüren.
Leider wurde Antisemitismus in der Forschung zu Hassrede bisher nur unzureichend berücksichtigt, insbesondere im Hinblick auf die Erfahrungen junger Menschen in den sozialen Medien. Auch darüber, wie junge Menschen kritisch-konstruktiv auf antisemitische Diskurse antworten können, ist wenig erforscht.
Hier knüpft unsere eigene Forschung an: Im Mittelpunkt unseres BMBF-geförderten Verbundprojekts RESPOND! steht die Entwicklung und Evaluierung des RESPOND! Medienkompetenztrainings, das junge Nutzer:innen sozialer Medien dazu befähigt, antisemitischen Hass auf sozialen Medien zu erkennen und kompetent darauf zu antworten. Wir verwenden partizipative Methoden und beziehen junge Nutzer:innen in die Entwicklung des Medienkompetenztrainings mit ein. Hierfür fordern wir sie zur Erstellung von Medientagebüchern auf (1. Schritt) und führen anschließend Fokusgruppendiskussionen mit ihnen (2. Schritt). Das RESPOND! Medienkompetenztraining schneiden wir dezidiert auf ihre Erfahrungen und Vulnerabilitäten zu (3. Schritt) und evaluieren es in einem Vorher-Nachher-Kontrollgruppendesign. Es ist als Multiplikator:innentraining angelegt, in dem Absolvent:innen des Trainings wiederum weitere Personen trainieren. Wir haben das Training bereits entwickelt und implementieren es derzeit.
Die Medientagebücher der Teilnehmenden bestätigen die sich ständig verändernde Natur antisemitischer Vorurteile, die sich aktuell gesellschaftspolitischen Entwicklungen chamäleonartig anpassen. Das Gros antisemitischer Botschaften wird in ihnen implizit zwischen den Zeilen mit einer sehr niedrigen Intensität an Boshaftigkeit ausgedrückt. Durch interaktive technologische Möglichkeiten wie Kommentare, Likes und Emojis erfahren insbesondere Diskussionen über Israel aber ein hohes Eskalationspotenzial. Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass eine solide Kenntnis kontextabhängiger Codes erforderlich ist, um subtil hasserfüllte Kommentare gegen Jüdinnen und Juden zu entschlüsseln. So äußern sich junge Menschen in Fokusgruppen über Antisemitismus hochgradig ambivalent. Sie scheinen wichtige Elemente antisemitischer Hassrede zu erkennen, fühlen sich beim Betrachten hasserfüllter Inhalte intuitiv unwohl und kennen sich mit technischen Reaktionsmöglichkeiten auf sozialen Medien gut aus. Gleichzeitig sind sie oft nicht dazu bereit oder in der Lage, Antisemitismus beim Namen zu nennen oder darüber zu sprechen. Sie ringen sich aus der Benennung von Antisemitismus heraus und rationalisieren ihn quasi aus den Botschaften weg. Sie distanzieren sich deutlich von Antisemitismus, indem sie sagen, er käme in ihrer eigenen Welt (oder Bubble) nicht vor. Unsere Studien betonen daher die Notwendigkeit, Gespräche über antisemitische Hassrede zu lernen, implizite Äußerungsformen von Antisemitismus zu erkennen und damit verbundene Ambiguitäten auszuhalten. Kenntnisse über die verschiedenen Ausdrucksformen von Antisemitismus sind unseren Ergebnissen nach nur im Zusammenschluss mit entsprechenden Debatten- und Emotionsregulierungskompetenzen die entscheidenden Schritte zum Empowerment junger Menschen gegen Antisemitismus im Netz.
Unser RESPOND!-Medienkompetenztraining ist umfassend gestaltet und baut auf fünf grundlegenden Prinzipien auf, die sich in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit als besonders wichtig erwiesen haben:
- Prozess: Im RESPOND!-Training vermitteln wir nicht nur Wissen über antisemitische Inhalte in sozialen Medien, sondern legen besonderen Wert auf das Verstehen und den Umgang mit diesen Inhalten. Antisemitische Diskurse erzeugen häufig Dissonanzen, Zweifel und Fragen, da sie oft implizit sind und nicht sofort als antisemitisch erkannt werden. Unser Training fördert daher eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Mediendiskursen und schafft einen geschützten Raum, in dem offen über Antisemitismus nachgedacht und gesprochen werden kann.
- Emotionen und Loyalitäten: Antisemitische Diskurse in sozialen Medien lösen bei jungen Menschen oft komplexe und widersprüchliche Emotionen aus, insbesondere wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht. Häufig entsteht der Eindruck, man müsse sich auf eine Seite schlagen, was zu einer pauschalen Ablehnung der anderen führt. Ein konstruktiver Umgang mit Antisemitismus erfordert jedoch, Gegensätze auszuhalten, Ambiguitäten zu tolerieren und sich vom Schwarz-Weiß-Denken antisemitischer Diskurse zu distanzieren. Dazu gehört die Bereitschaft, sich auch mit unangenehmen Emotionen auseinanderzusetzen und eigene Loyalitäten und Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
- Pluralität: Das RESPOND!-Training legt großen Wert auf die Integration vielfältiger Perspektiven und fördert ein tiefes Verständnis für die Komplexität antisemitischer Diskurse. Indem wir jüdische Stimmen aktiv einbeziehen, geben wir den Teilnehmenden die Möglichkeit, aus erster Hand zu erfahren, wie Antisemitismus erlebt wird und welche Auswirkungen er auf das Leben von Betroffenen hat. Darüber hinaus ermutigen wir die Teilnehmer:innen, sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen, selbst wenn diese kontrovers oder unbequem sind, um ein differenziertes Bild von den vielfältigen Realitäten zu gewinnen, die in antisemitischen Diskursen oft unterrepräsentiert sind.
- Identität und Gemeinschaft: Unser Training fördert die Selbstreflexion und unterstützt sowohl individuelles als auch kollektives Handeln. Ziel ist es, eine positiv-wertschätzende Gemeinschaft zu schaffen, mit der sich die Teilnehmer:innen identifizieren und in der sie sich aufgehoben fühlen. Diese Gemeinschaft dient auch nach dem Training als nachhaltige Anlaufstelle für Unterstützung.
- Die fünf Rs: Die 5 R’s des RESPOND!-Trainings bieten eine strukturierte Vorgehensweise gegen Hassrede im Netz. Recognize (Erkennen) hilft, antisemitische Muster zu identifizieren. Reflect fördert das Nachdenken über antisemitische Inhalte und das Inkaufnehmen von Ambiguität. Report (Melden) leitet an, wie man Hassrede den Plattformen oder Behörden meldet. Repost (Teilen) bedeutet, aktiv positive und aufklärende Inhalte über das Judentum und gegen Antisemitismus zu verbreiten – indem man dezidiert Beiträge repostet, die Vorurteile abbauen (beispielsweise anhand von Dekonstruktion). Retell (Erzählen) ermutigt dazu, das im Training erworbene Wissen im eigenen Umfeld zu teilen, über Antisemitismus aufzuklären und die RESPOND-Community zu nutzen, um gemeinsam gegen Hass vorzugehen.
Antisemitismus im Netz ist ein altes Problem in neuer Gestalt, dem insbesondere junge Menschen täglich begegnen. Die Auseinandersetzung damit erfordert nicht nur Medienkompetenz, sondern auch eine Kultur der Selbstreflexion und des offenen Dialogs, in der verschiedene Perspektiven aktiv wertgeschätzt werden. Unser Ziel ist es, junge RESPONDER zu befähigen, in ihrem digitalen Alltag kompetente und differenzierte Positionen einzunehmen und so zu einem respektvollen und inklusiven Miteinander in der Gesellschaft beizutragen.
Özen Odağ
Prof. Dr. Özen Odağ ist Psychologin und forscht an der Touro University Berlin an der Schnittstelle von Medien, Kommunikation und Psychologie. Ihr besonderes Interesse gilt der Online-Partizipation und der Bekämpfung von Hassrede, insbesondere in Bezug auf marginalisierte soziale Gruppen. Im Rahmen des RESPOND!-Projekts entwickelt sie innovative Interventionsprogramme, um junge Erwachsene im Umgang mit und bei der Bekämpfung von Online-Antisemitismus zu stärken.
Literatur
Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice. Reading et al.: Addison-Wesley.
Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a.
El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
Fanon, Frantz (1952): Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Pierce, Chester M. (1970): Offensive Mechanisms. In: Floyd Barrington Barbour (Hrsg.): The Black Seventies, S. 265–282, Boston: Porter Sargent Publisher.
Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.
Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassismus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.